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Alltag im All: Eine Szene aus „Shangri-La“.

© Splitter

Auf den Spuren von Orwell, Moebius und Kubrick: Revolution im Weltraum

Der Science-Fiction-Comic „Shangri-La“ greift aktuelle politisch-wissenschaftliche Debatten auf und erzählt visuell ausgefeilt vom Leben nach der Apokalypse.

In ferner Zukunft ist der blaue Planet unbewohnbar geworden. Die Nachkommen der Menschen, die die „große Katastrophe des 21. Jahrhunderts“ überlebt haben, hausen zusammen mit Animoiden - Kreuzungen zwischen Tier und Mensch -, auf engem Raum auf der USS Tianzhu, einer riesigen Raumstation, die in der Erdumlaufbahn kreist.

Innovative Raumschiffarchitektur: Ein Panel aus „Shangri-La“.
Innovative Raumschiffarchitektur: Ein Panel aus „Shangri-La“.

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Scott ist Astronaut und in besonderer Mission unterwegs, um Forschungsraumschiffe zu untersuchen, die durch seltsame Explosionen zerstört wurden. Er stößt auf gefährliche wissenschaftliche Experimente mit Antimaterie und berichtet darüber seinen Auftraggebern von Tianzhu, einem monopolistischen Unternehmen, das die Raumstation regiert.

Während Scott lange Zeit ein Opportunist bleibt, der Tianzhu vertraut, haben sein Bruder Virgil und weitere Freunde es satt, dass der Tech-Konzern über ihr Schicksal entscheidet. Sie schließen sich der Widerstandsgruppe um den geheimnisvollen „Mr. Sunshine“ an.

Die Raumstation gerät allmählich außer Kontrolle: Demonstrationen werden häufiger, Unruhen brechen aus. Und die in Eintracht mit den Menschen lebenden Animoiden - wie Scotts Kollege John, der einem Hund ähnelt - erfahren Diskriminierung und werden Ziele gewalttätiger menschlicher Übergriffe.

Tianzhu verkündet indes in TV-Talkshows, dass die Wissenschaftler einen neuen, überlegenen Menschentypus, den „Homo Stellaris“ designt haben, der auf der Ebene von Shangri-La auf dem Saturnmond Titan angesiedelt werden soll.

In Frankreich ein Bestseller

Der 1987 geborene Comiczeichner Mathieu Bablet zeichnet bereits seit rund zehn Jahren Comics, die überwiegend dem Science-Fiction-Genre zuzuordnen sind. Mit seiner futuristischen Graphic Novel „Shangri-La“, die in Frankreich bereits 2016 veröffentlicht wurde, liegt nun erstmals eine deutsche Übersetzung seines bislang wichtigstes Werkes vor (Übersetzung Harald Sachse, Lettering Dirk Schulz, Splitter-Verlag, 224 S., 39,80 €), das sich in seiner Heimat zum Bestseller entwickelte.

Neue Heimat: Eine weitere Szene aus „Shangri-La“.
Neue Heimat: Eine weitere Szene aus „Shangri-La“.

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„Shangri-La“ bietet eine komplexe, bildgewaltige Zukunftsvision, die aktuelle Debatten über den menschengemachten Klimawandel und die Ausbeutung des Planeten reflektiert und klug weiterdenkt. Tianzhu (der Begriff ist ein früherer chinesischer Name für Indien) steht für ein Unternehmen, das die Bedürfnisse der Menschen durch gelenkte Konsumbedürfnisse in Zaum hält (etwas kurios: neueste Smartphones und Tablets sind auch in der Zukunft noch die Objekte der Begierde), um seine eigenen dubiosen Ziele zu verfolgen.

So gelingt Mathieu Bablet ein faszinierendes Update von George Orwells Dystopie „1984“: der totalitäre staatliche Apparat wird dabei durch ein anonymes, sich liberal gebendes Unternehmen (mit chinesischem Namen) ersetzt, das auf Gewalt verzichtet - vorerst. Und auch die Wissenschaft hat in Bablets vielschichtigem Szenario eine zwielichtige Rolle inne: In alter Frankenstein-Tradition werkelt sie etwa an der Erschaffung eines „Übermenschen“, der sogar das alte Menschen-Modell langfristig ersetzen soll.

[Weitere Tagesspiegel-Rezensionen aktueller Science-Fiction-Comics gibt es hier: Weltenrettung made in China, Flucht ins AllDas fliegende KlassenzimmerDie den Gottesstaat stürzen will.]

Und damit sind nur einige wesentlichen Themen genannt, die Bablet in seiner Sci-Fi-Vision anreißt: Sinnloser Konsum, die zweifelhafte Rolle der Medien, gesellschaftliche Ausgrenzung von Minderheiten und weltraumtechnologische Fragen kommen hinzu.

Nicht zuletzt ist der Titel „Shangri-La“ auch ein Hinweis auf eine mythische Utopie der Moderne: der britische Schriftsteller James Hilton benannte so 1933 in seinem Roman „Lost Horizon“ einen fiktiven Ort in Tibet, in dem paradiesische Zustände herrschten.

In grafischer Hinsicht beeindruckt Bablet mit kühnen Weltraumperspektiven und visuell ausgefeilten Designs von Raumschiffen: Das Innere der USS Tianzhu wird etwa von technologisch aufwändigen Architekturen dominiert, die in ihrer Detailfülle und ihrer kühl-bläulichen bis giftgelben Kolorierung an die Dekors in Moebius' „Incal“-Bänden erinnern.

Das Titelbild von „Shangri-La“.
Das Titelbild von „Shangri-La“.

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Die zum Teil an Mangafiguren erinnernden Protagonisten fallen hingegen etwas schablonenhaft aus und führen eher durch die Handlung, als dass sie ausgefeilte Charaktere darstellten. Eine Ausnahme ist der Animoid John, der sich zur spannenden, tragischen Figur entwickelt.

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Bablets vielschichtige Zukunftsvision erinnert mit seinen Weltraumbildern und auch in seinem strukturellen Aufbau bisweilen an Stanley Kubricks Filmklassiker „2001 - Odyssee im Weltraum“. Wie in dessen Prolog bildet hier ein in leuchtenden, erdigen Farben getauchter Epilog einen archaischen Kontrast zum futuristischen Mittelteil.

Dieser utopische Epilog knüpft visuell an den furiosen apokalyptischen Auftakt des Buches an, in dem der Protagonist Scott wie Robinson Crusoe auf einem fremden Planeten ums Überleben kämpft.

Wie dieser rätselhafte Anfang zu verstehen ist, erschließt sich erst nach Lektüre des ganzen Buches, das an manchen Stellen mit Themen und inhaltlichen Details überfrachtet ist . Doch sorgt Bablet mit dem Epilog für einen gelungenen Abschluss seiner Erzählung. Der Zeichner spielt darin den Gedanken durch, was wäre, wenn die Menschheit die Möglichkeit hätte, die „Reset“-Taste zu drücken.

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