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Raumfüllend: Eine Seite aus „Andy – A Factual Fairytale“.

© Carlsen

„Andy – A Factual Fairytale“: Andy im Wunderland

Mit seinem Comic „Andy – A Factual Fairytale“ kommt der niederländische Zeichner Typex dem Jahrhundertkünstler Warhol sehr nah - nicht immer zu dessen Vorteil.

Immer wieder Tomatensuppe. Und wenn das wenige Geld der Familie Warhola mal nicht fürs Essen aus der Dose reichte, gab’s eben Ketchup mit heißem Wasser. Die rot gefüllten Suppenteller, die der kleine Andrew und seine Brüder regelmäßig vorgesetzt bekommen, sind einige der wenigen Farbtupfer im ansonsten weitgehend schwarz-weißen Auftaktkapitel der Warhol-Biografie „Andy – A Factual Fairytale“ des niederländischen Illustrators und Comicautors Typex.

Die anderen aus dem Alltagsgrau herausragenden Akzente im Leben des Künstlers als junger Mann sind farbenfroh gezeichnete Filmstars wie Shirley Temple und Marlene Dietrich sowie die Helden der Zeitungscomics, die in den 1930er und 40er Jahren in den USA omnipräsent waren: Dick Tracy und Superman, Betty Boop und Micky Maus.

In einer Schlüsselszene, die am Ende des Buches im Kontext von Warhols Tod 1987 wieder aufgenommen wird, kehrt der kleine Andy dem grauen Alltag ganz den Rücken und steigt durch den Spiegel des heimischen Badezimmers in die bunte Welt der Unterhaltung, des Konsums und der Sorglosigkeit hinein wie einst Alice ins Wunderland.

Jedes noch so kleine Detail wird gewürdigt

Die Botschaft, die Typex hier vermittelt: Die Kunst Andy Warhols, der in diesem Jahr 90 geworden wäre, lässt sich unmittelbar aus seinem Leben erklären. Angesichts später für Millionensumme gehandelter Warhol-Drucke mit seinen Interpretationen von Tomatensuppendosen, Comicfiguren und Filmstars erscheint das durchaus plausibel.

Allerdings legt sich das Buch auf diese Weise auf eine Lesart von Warhols Schaffen fest, die dessen persönliche Erfahrungen zum Schlüssel nahezu seines gesamten Werkes macht. Ob und welche anderen Aspekte den Pop-Art-Pionier und Kunstunternehmer in seinem Schaffensprozess prägten, kann man nach der Lektüre nur mutmaßen – auch, weil die eigentliche Arbeit Warhols an seinen Siebdrucken und Gemälden und seine künstlerischen Beweggründe in diesem opulenten Buch auffallend wenig thematisiert werden.

Mehr Raum nimmt seine spätere Arbeit als Regisseur, Musikproduzent, Verleger und Vermarkter seines Lebenswerkes ein. Vor allem aber wird jedes noch so kleine Detail des Warhol’schen Privatlebens gewürdigt, was die Lektüre des 550-Seiten-Wälzers streckenweise zäh macht. Die Empfehlung des Autors, nicht mehr als ein Kapitel auf einmal zu lesen, sollte man ernst nehmen.

Wer sich drauf einlässt, wird allerdings reich belohnt. Der Clou des Buches ist die visuelle Umsetzung: Für jede neue Lebens- und Schaffensphase seiner Hauptfigur hat Typex eine andere Ästhetik entwickelt, die nicht nur mit verändertem Zeichenstil die unterschiedlichen Facetten von Warhols Persönlichkeit aufgreift, sondern den Zeitgeist verschiedener Epochen einfängt.

Das bedrückende Grau der von einer folgenreichen Krankheit und familiären Schicksalsschlägen überschatteten Jugend in Pittsburgh weicht einer zunehmend freundlichen Anmutung, je mehr der introvertierte, linkische, aber schon früh als hochbegabt erkennbare Warhol seinen eigenen Weg geht, einschließlich der Erkenntnis, sich zu Männern mehr als zu Frauen hingezogen zu fühlen.

Auch Truman Capote, Jackson Pollock oder David Bowie tauchen auf

Ab 1962 explodieren dann die Farben, mit seriellen Drucken von Prominentenporträts und Alltagsgegenständen wird Warhol zum neuen Star der Kunstszene. Zehn Kapitel sind so entstanden, von denen jedes wie ein eigenes Buch daherkommt, mit fein abgestimmten Zwischentiteln und Sammelkarten wichtiger Figuren – in Sachen Verpackung und selbstironisches Marketing steht Typex seiner Hauptfigur in nichts nach.

Neben Warhol begegnen wir zahlreichen weiteren Künstlern, die das 20. Jahrhundert prägten und die Typex mit freundlichem Spott karikiert. So spricht die aus Deutschland stammende Sängerin Nico, die Warhol ab Anfang der 60er Jahre als seine Muse förderte und zur Sängerin der von ihm produzierten Band Velvet Underground machte, ein fehlerhaftes Englisch in schwarzen Sprechblasen mit weißer Frakturschrift – eine Anspielung auf ihre tiefe Stimme und ihren besonderen Akzent. Herrlich auch, wie Typex missglückte Begegnungen Warhols mit Zeitgenossen wie Truman Capote, Jackson Pollock oder David Bowie schildert.

Ständige Suche nach neuen Ausdrucksformen

Der Autor zieht alle Register des Comic-Handwerks, um die Lektüre der Biografie trotz ihres enormen Umfangs zu einem unterhaltsamen Erlebnis zu machen: Er spielt mit der Seitenarchitektur, vermischt Bildzitate aus Warhols Werk mit Anleihen bei der russisch-orthodoxenen Ikonenmalerei, bei der Werbeästhetik, dem Zeitungscomic und dem illustrativen Magazin-Layout.

Sein Stil erinnert zumeist an den leicht karikierenden Realismus von Comicpionier Will Eisner, nimmt dann aber auch Anleihen beim Undergroundcomic, beim bonbonbunten Surrealismus des Beatles-Animationsfilms „Yellow Submarine“ oder dem homoerotischen Realismus von Tom of Finland. Das ist nicht nur visuell aufregend.

Das Cover von „Andy – A Factual Fairytale“.
Das Cover von „Andy – A Factual Fairytale“.

© Carlsen

Nach der Lektüre hat man das Gefühl, dem in vielen anderen Darstellungen so unzugänglich wirkenden Warhol sehr nahe gekommen zu sein – nicht immer zu seinem Vorteil. Wie Warhol es verstand, sich andere Menschen zunutze zu machen und sie fallen ließ, wenn sie ihren Zweck für ihn erfüllt hatten, ist erschütternd.

Zugleich vermittelt Typex anschaulich, wie die unbändige Kreativität und der Eigensinn Warhols, seine ständige Suche nach neuen Ausdrucksformen, aber auch sein Charme und sein Humor ihn für viele Menschen so anziehend machten, dass sie sich ihm und seiner Sache bedingungslos hingaben.

Typex: Andy – A Factual Fairytale. Leben und Werk von Andy Warhol, Carlsen, aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann, 562 Seiten, 48 Euro.

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