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„Als David seine Stimme verlor“ von Judith Vanistendael: Auf der letzten Reise

„Dann ist man weg, futschikato“: Die belgische Zeichnerin Judith Vanistendael legt einen Totentanz der besonderen Art vor und erzählt die berührende Geschichte eines schleichenden Verlustes.

Der neue Comic der belgischen Zeichnerin Judith Vanistendael ist ein Schlag in die Magengrube, so kraftvoll und überwältigend erzählt sie in „Als David seine Stimme verlor“ von einer Krebserkrankung und ihren Folgen. Im Zentrum der autobiografisch motivierten Geschichte, die in Berlin spielt, steht der Künstler David, der eines Tages von seinem Freund und Arzt Georg erfährt, dass er an Kehlkopfkrebs erkrankt ist. Vanistendael erzählt in ihrem alle Distanz zwischen Leser und Geschichte auflösenden Comic, was es bedeutet, mit einer solchen Diagnose umzugehen, und wie sich das medizinisch verursachte Verstummen Davids wie eine alle Sprache erstickende Decke über seine Familie legt.

Ein Comic als Therapie? Von wegen!

Vor fast fünf Jahren starb der Stiefvater der belgischen Zeichnerin an Kehlkopfkrebs. Diese Erfahrung wird in der Tiefe und Intensität ihres neuen Comics sichtbar. Sie erklärt auch die Perspektive, aus der die Geschichte von Davids langsamen Sterben erzählt wird. Es ist nicht der Erkrankte selbst, der hier mit seiner inneren Stimme erzählt, wie er mit der Krankheit und ihren Folgen für ihn uns seine Umwelt umgeht, sondern der Leser blickt mit den weiblichen Figuren, die David umgeben, von außen auf das Geschehen. In diesen Außenperspektiven verarbeitet Vanistendael die eigene Erfahrung, wie es ist, einen nahestehenden Menschen zu verabschieden. „Ich wollte eine Geschichte erzählen, in der es darum geht, wie schwer es ist, in einer solchen Situation miteinander zu sprechen und wie sich diese Sprachlosigkeit auf alle auswirkt. Wie gehen Menschen mit dem Tod eines geliebten Menschen um? Man meint, die Betroffenen würden das im Allgemeinen ganz gut machen, aber ehrlich gesagt ist das nicht der Fall“, sagte Vanistendael im vergangenen Jahr in einem Interview zum Erscheinen der englischen Ausgabe. Diese wurde in diesem Jahr für drei Eisner-Awards nominiert, was alles andere als eine Kleinigkeit auf dem hart umkämpften amerikanischen Comicmarkt.

Trauerarbeit: Eine weitere Doppelseite aus dem Buch.
Trauerarbeit: Eine weitere Doppelseite aus dem Buch.

© Reprodukt

„Als David seine Stimme verlor“ überzeugt vor allem in dem gleichermaßen empathischen wie nüchternen Ton, den Vanistendael ihre Protagonisten anschlagen lässt. Es scheint so, als würde ihr die eigene Erfahrung helfen, aus der Betroffenheit auszubrechen und in einen grundsätzlicheren Diskurs überzugehen. Diesen Eindruck hatte man schon bei „Kafka für Afrikaner“. In ihrem anmutigen, würdevollen und leisen Totentanz, der „Als David seine Stimme verlor“ ist, bestätigt sich dies einmal mehr. Wer aber meint, der Comic sei eine Art Therapie für sie gewesen, täuscht sich. „Letztendlich hat die Arbeit an dem Comic alles zurückgebracht“, sie sei froh gewesen, als es endlich fertig war, liest man von ihr.

Flucht aus der inneren Einsamkeit

Der grundsätzliche Diskurs über das Sterben und was es mit den Betroffenen und ihren Angehörigen macht, wird durch die Verteilung der Perspektive auf die drei wichtigsten Frauen in Davids Leben ermöglicht. Sie sind seine zweite Frau Paula und die gemeinsame Tochter Tamar sowie Miriam, seine Tochter aus erster Ehe. Jede entwickelt dabei für sich einen ganz eigenen Umgang mit Davids Erkrankung. Tamar etwa hat in ihrer kindlichen Naivität kaum eine Vorstellung davon, was es heißt, dass ihr Vater sterben wird. Für sie strahlen die einzelnen Ereignisse im Verlauf der Krankheit nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine große Anziehungskraft aus. Immer wieder sieht man sie staunend und fragend an der Seite ihrer Eltern. In einer Mischung aus Neugier und Instinkt sucht sie die Nähe zu ihrem Vater, der sich noch ein letztes Mal mit ihr aufmacht, um über die Berliner Seen zu segeln. Tamar versucht, die Bedeutung der einzelnen Ereignisse zu verstehen, geht dabei fast philosophisch vor – etwa wenn sie mit ihrem Kinderfreund Max nach dem Gewicht der Seele sucht, um herauszufinden, wie man Davids Seele bei seinem Ableben am besten einfangen kann –, und muss doch daran scheitern, weil das Konzept des Todes ihre Vorstellungskraft übersteigt. „Tot“ bedeutet für sie, dass man weg ist, „futschikato“.

Miriam hat eigentlich mit sich selbst genug zu tun. Gerade ist ihre Tochter Louise geboren, was die Verbindung zu David zwar stärkt, aber zugleich die lapidare Erkenntnis gebiert, dass das Leben ein Kommen und Gehen ist. Und während David nun geht, kann Louise kommen. Die stärkste Person in der Geschichte ist Davids Frau Paula, wenngleich natürlich auch sie Zusammenbrüche hat. Aber sie ist das Bindeglied zwischen David, der dem Tod entgegen gleitet, und seinen Töchtern. Sie kümmert sich liebevoll um ihren Mann, motiviert ihn immer wieder, sich mit seiner Tochter auseinanderzusetzen und versucht das, was man Normalität nennen könnte, aufrecht zu erhalten. Zugleich kümmert sie sich um ihr eigenes Seelenheil, denn nicht selten gehen gerade die starken Persönlichkeiten bei der Begleitung von Sterbenden selbst unter. Paula will das nicht, auch wenn sie feststellt, dass es nicht einfach ist, in einer solchen Situation egoistisch zu sein. Während eines Krankheitsschubs erhält sie das Angebot, als Gastdozentin nach Helsinki zu fliehen und nimmt an. Ihre Reise ist aber auch eine Flucht aus der inneren Einsamkeit heraus, die sie umgibt.

Und so wie Paula nach Finnland fliegt, begeben sich alle Personen in dieser Geschichte auf eine Reise. Tamar geht segeln und Miriam begibt sich auf den Jakobsweg. Zugleich werden wir Zeuge von vier verschiedenen Abschlüssen eines Lebensabschnitts: Tamars Reise führt aus der unschuldigen Naivität des Kindseins heraus, Miriams in die Verantwortung einer Elternschaft hinein, Paulas Reise führt sie näher an die Einsamkeit der Zurückgebliebenen heran und Davids Reise geht in den Tod.

Von eigenen Erfahrungen der Autorin inspiriert: Das Buchcover.
Von eigenen Erfahrungen der Autorin inspiriert: Das Buchcover.

© Reprodukt

Judith Vanistendaels Zeichenstil vermittelt das Wechselbad der Gefühle, dem ihre Protagonisten ausgesetzt sind. So wie diese mal wütend und mal verletzt sind, sind die Zeichnungen hier wild und expressiv, dort zart und transparent ausgeführt, mal bleiben die Farben pastellig im Hintergrund, dann wieder treten sie leuchtend hell nach vorn. Ihre Akteure stellt sie niemals aus, sondern porträtiert sie sensibel, liebevoll und mit Respekt. Über die 280 Seiten währende Erzählung hinweg wird nicht nur David immer stummer, sondern auch seine Umgebung verfällt immer wieder in die Sprachlosigkeit. In diese Stille hinein hat Vanistendael die kleinen Details gezeichnet, anhand derer wir den Schmerz, die Fassungslosigkeit und die Traurigkeit der Menschen erkennen, denen David nahesteht.

„Ich will gehen“

Am Ende muss David ins Krankenhaus, sein Kehlkopf wird ihm entfernt, und mit ihm auch die Stimme. Es ist der Auftakt der letzten Etappe. Mit seiner Frau Paula kommuniziert er auf Notizzetteln. Auf einer Seite sehen wir, wie sie ihn schweigend, aber zärtlich pflegt, darüber lesen wir seine innere Stimme, die ihr ein letztes Mal sagt, dass er sie liebt. Es sind diese andächtigen und atmosphärischen Momente, die diesen Comic so wertvoll machen. Eines Abends legt David einen Zettel neben seinen Kopf. Es ist der letzte verzweifelte Hilferuf eines Freundes: „An Georg. Ich will gehen.“ So thematisiert dieser Comic schließlich auch noch die hitzige Debatte um den ärztlich assistierten Suizid und die Frage, ob es nicht auch zur ärztlichen Verantwortung gehört, dem Patienten seinen letzten Willen und damit seine Würde zu lassen.

Diese Geschichte einer Krebserkrankung und ihrer Folgen ist so empathisch und berührend erzählt, dass man immer wieder gegen den Kloß im Hals ankämpfen muss, der sich beim Lesen bildet. Judith Vanistendaels Erzählung dringt tief in unser Inneres, wo sich Wut und Traurigkeit breit machen. Sie rühren von der Einsamkeit und Hilflosigkeit her, die eine solche Erkrankung einer nahestehenden Person auslöst. Zugleich wird hier von der Schönheit des Lebens erzählt, an der ein jeder im Angesicht der existenziellen Verlustangst festhält.

Im Comic taucht immer wieder das Symbol des Totentanzes auf. Wenn das Abschiednehmen von geliebten Menschen einem Tanz gleich kommt, dann ist dieser Abschied hier ein letzter, zärtlicher Tango. Gleichermaßen bedrückend wie beglückend greift dieser Comic mitten hinein in das Leben und macht uns dessen Wert in seiner Verletzlichkeit begreiflich.

Judith Vanistendael: Als David seine Stimme verlor. Aus dem flämischen Niederländisch von Ruth Notowicz. Reprodukt, 280 Seiten, 34,- Euro. Leseprobe unter diesem Link.

Mehr Tagesspiegel-Artikel unseres Autors Thomas Hummitzsch gibt es hier, und hier findet sich seine Website intellectures.

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