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Vor dem Inferno: Eine Szene aus „Die Bombe“.

© Carlsen

75 Jahre nach Hiroshima: Wie ein Comic die Geschichte der Atombombe auf den Punkt bringt

Die Graphic Novel „Die Bombe“ erhellt auf intelligente, künstlerisch überzeugende Weise die Hintergründe der Atombombenabwürfe vor 75 Jahren.

Als die Bombe abgeworfen wurde, saß er ruhig auf den Stufen eines Gebäudes. Wenig später war nur noch ein Schatten von ihm übrig. Der Schatten des namenlosen Mannes auf einer Treppe der japanischen Stadt Hiroshima existiert wirklich und ist heute Teil einer Gedenkstätte in Hiroshima (dem Hiroshima Peace Memorial Museum).

Der belgische Comicszenarist Alcante (mit bürgerlichem Namen Didier Swysen) besichtigte den Ort Anfang der 80er Jahre, als er zusammen mit seinem Vater einen japanischen Schulfreund in Japan besuchte. Der für den Jungen geheimnisvolle wie furchterregende Schatten ließ ihn nie mehr los. Genausowenig wie die Katastrophe selbst: der Abwurf der ersten Atombombe vor 75 Jahren.

Jahrzehnte später sollte er die Geschichte dieses Schattens und des Menschen dahinter erzählen. Es war die Initialzündung für einen umfangreichen Comic, der sich dem grauenvollen Ereignis widmen und seine Hintergründe erhellen sollte.
Nun liegt das Buch vor. Die Graphic Novel „Die Bombe“ (aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock, Carlsen, 472 S., Hardcover, 42 €), die man auch als Doku-Fiction-Comic bezeichnen könnte, hat Alcante fünf Jahre intensiver Arbeit gekostet.

Kein konventioneller „Sach-Comic“

Der 1970 geborene Autor, der mit populären Comic-Reihen wie „XIII Mystery“ (für François Boucq), „Rani“ (zusammen mit Jean Van Hamme), „Ars Magna“ oder „Lao Wai“ bekannt wurde, hat das Szenario zusammen mit seinem ebenso versierten französischen Co-Autor Laurent-Frédéric Bollée (Jahrgang 1967, Szenarien zu „Terra Australis“, „Deadline“, „Bruno Brazil“ u.a.) rechtzeitig zum 75. Jahrestag der Katastrophe erarbeitet.

Eine Minute bis zum Abwurf: Eine Szene aus „Die Bombe“.
Eine Minute bis zum Abwurf: Eine Szene aus „Die Bombe“.

© Carlsen

Eine Herkulesaufgabe stellte das Projekt auch für den kanadischen Zeichner Denis Rodier dar, der zunächst für die US-amerikanischen Verlage DC und Marvel arbeitete und durch seinen preisgekrönten „Death of Superman“-Zyklus bekannt wurde, seit Jahren Serien hauptsächlich für den frankobelgischen Markt wie „The Order of Dragons“ (mit Jean-Luc Istin) oder „L´ Apogée des Dragons“ (mit Corbeyran) kreierte. In enger Zusammenarbeit mit den beiden Szenaristen schuf er die Zeichnungen zu diesem letztlich 450 Seiten umfassenden Buch.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Zum Glück ist daraus kein konventioneller „Sach-Comic“ geworden - ein Genre, in dem häufig zu einem beliebigen Thema Fakten allzu wortlastig und in mäßiger grafischer Qualität aufbereitet werden -, sondern ein durchkomponiertes, erzählerisch dichtes, auch künstlerisch überzeugendes Werk. Darüber hinaus ist es glänzend recherchiert und bietet einen guten Einstieg ins Thema, auf anspruchsvollem Niveau.

Im Mittelpunkt steht die Entwicklung der ersten Atombomben im Rahmen des „Manhattan Project“, jedoch wird auch die lange Vorgeschichte dazu ausführlich erzählt und der Wettlauf verschiedener Nationen um die neue, noch unerforschte Waffen-Technologie deutlich gemacht.

Albert Einsteins folgenreicher Brief an Roosevelt

Das Szenaristen-Team orientiert sich dabei an seinen Figuren, jenen Menschen, die die Entwicklung der Atombombe und somit auch die Geschichte selbst maßgeblich beeinflusst haben. Zu Beginn sind das der Atomphysiker Enrico Fermi (1901-54), der u.a. für die Entdeckung der Kernreaktionen 1938 den Nobelpreis für Physik bekommen hat und Leó Szilárd (1898-1964), ein ungarischer Kernphysiker, der Anfang der 30er Jahre in Berlin lehrte und u.a. die nukleare Kettenreaktion entdeckte.

Doku-Fiktion: Das Buch verbindet reale Figuren mit fiktiven Elementen.
Doku-Fiktion: Das Buch verbindet reale Figuren mit fiktiven Elementen.

© Carlsen

Bereits am Vorabend des Zweiten Weltkriegs erkannte der jüdischstämmige, inzwischen in die USA emigrierte Szilárd, wie gefährlich es wäre, wenn Hitler die Atombombe entwickeln ließe. Er war es auch, der Albert Einstein zu jenem folgenreichen Brief an Roosevelt überredete, mit dem Rat, die neuartige Waffe zuerst zu entwickeln.

Drei Jahre gingen ins Land, bis die Politik (u.a. aufgrund des Angriffs der Japaner auf Pearl Harbour) die Notwendigkeit sah, dass es mit der Forschung und der Entwicklung der Bombe weitergehen sollte. Zu diesem Zeitpunkt kam General Leslie Richard Groves (1896-1970) ins Spiel, der als „Mann der Tat“ die Feder führen sollte und der Julius Robert Oppenheimer als Leiter des „Manhattan Project“ in Los Alamos bestimmte und an verschiedenen Standorten der USA Labors und Fabriken bauen ließ.

Eine Familie als Stellvertreter für die japanische Bevölkerung

Sämtliche Wissenschaftler wurden überwacht und abgehört, damit das geheime Projekt nicht öffentlich bekannt wurde. Die Beziehungen der Beteiligten – darunter Wissenschaftler, Militärs und Politiker - untereinander werden so detailliert aufgeschlüsselt, dass es oft zu komischen Pointen kommt.

Nach dem Abwurf: Eine Doppelseite aus „Die Bombe“.
Nach dem Abwurf: Eine Doppelseite aus „Die Bombe“.

© Carlsen

Insbesondere die hasserfüllte Verhältnis des cholerischen Groves zum eigenwilligen Szilárd ist für den Leser vergnüglich. Darüber hinaus schneiden Alcante und Bollée auch zu anderen zentralen Schauplätzen wie London, Berlin, Norwegen (wo britisch-norwegische Fallschirmjäger den deutschen Abbau von „Schwerem Wasser“ sabotieren wollen) und Hiroshima.

Hier steht die fiktive Familie Morimoto im Mittelpunkt, deren Mitglieder auf unterschiedliche Weise in den Krieg und die japanische Rüstungsindustrie verwickelt sind. Die Morimotos stehen stellvertretend für das Schicksal der japanischen Bevölkerung.

Vom Entwickler zum Gegner der Atombombe

Ein erzählerischer Coup ist den Szenaristen mit der Idee gelungen, das Uran selbst zum (diabolischen) Erzähler der Geschichte zu machen, wenn es etwa im Kongo abgebaut wird und gen USA verschifft wird, wo es lange nutzlos lagert, bis es „seine Stunde gekommen“ sieht und gierig darauf wartet, „in Aktion“ zu treten.

Die in schwarzen Wolken untergebrachten Texte dieser Erzählerstimme tauchen nicht auf jeder Seite auf, sondern wohldosiert an entscheidenden Momenten des Buchs. Sie geben der gesamten Graphic Novel eine unheilschwangere Note, sorgen für zusätzliche Spannung, die sich im Inferno des 6. August 1945 entlädt.

Herkunftsgeschichte: Eine Doppelseite aus „Die Bombe“.
Herkunftsgeschichte: Eine Doppelseite aus „Die Bombe“.

© Carlsen

Die wohl charismatischste Figur der Geschichte, Leó Szilárd, der den Bau der Bombe aus Furcht vor Nazideutschland initiierte, wandelte sich schon in den letzten Kriegsmonaten zum überzeugten Gegner der Atombombe: er wollte deren Einsatz in Japan verhindern und sah das Wettrüsten des Kalten Krieges lange voraus.

Der 1963 geborene Denis Rodier beweist auf rund 450 Seiten, dass er ein Meister der realistischen Zeichnung ist: höchst einfallsreich findet er für jede Seite das passende individuelle Layout, bis hin zu surreal-alptraumhaften Sequenzen, die sich über mehrere Doppelseiten erstrecken.

Seine kontrastreichen Schwarzweiß-Tuschezeichnungen geben die verschiedenen Schauplätze glaubwürdig wieder und erinnern an die Bilder klassischer Hollywood-Filme der 40er Jahre. Auf sehr filmische Weise machen sie auch die komplexen Zusammenhänge anschaulich, ohne je ins Reißerische zu verfallen. Die Dialoge sind intelligent geschrieben und individuell auf die jeweiligen Akteure abgestimmt.

Heimliche Experimente an Menschen

In puncto Faktentreue hat das kongenial sich ergänzende Dreierteam mit „Die Bombe“ auf eindrucksvolle Weise nahezu alles Wesentliche zusammengetragen, was zum Thema aus heutiger Perspektive zu sagen ist.

Differenziert werden verschiedene Blickwinkel des Ereignisses aufgezeigt – etwa die des US-Präsidenten Truman, der erst nach Roosevelts Tod von dem geheimen Projekt erfuhr und bald begierig war, die Bombe einzusetzen – und auch unbekanntere, oft abgründige Details werden beleuchtet: so wurden im Oak Ridge Hospital (einem Ort des Manhattan Projects) heimlich Experimente an Menschen - einfachen Arbeitern und Kranken - gemacht, um zu testen, wie schädlich Plutonium für Menschen ist.

Das Titelbild des besprochenen Buches.
Das Titelbild des besprochenen Buches.

© Carlsen

Bewusst hat sich Alcante bereits zu Beginn der Arbeit dazu entschieden, nicht die japanische Perspektive in den Mittelpunkt zu stellen, und begründet das damit, dass dies bereits Keiji Nakazawa in den 70er Jahren getan hatte, als er den autobiografischen, epischen Manga „Barfuß durch Hiroshima“ zeichnete und den Augenzeugen und Opfern damit eine angemessene Stimme und ein Gesicht gab.

Mit der Schatten-Metapher und der Erzählung um die Familie Morimoto wird diese Seite aber auch nicht vernachlässigt. Für die Katastrophe in Hiroshima findet Rodier über mehrere Doppelseiten hinweg geradezu apokalyptische, lange nachwirkende Bilder.

Besser und ausgewogener als so manche filmische Adaption der Ereignisse, ist die Graphic Novel „Die Bombe“ sowohl ein herausragendes Beispiel für packende, intelligente Erzählkunst wie auch für die differenzierte Darstellung komplexer Ereignisketten.

Nach wenigen Seiten wird der Leser gefangengenommen und folgt einer atemberaubenden wie historisch erhellenden Erzählung in virtuos gezeichneten Bildern – ein fulminanter Beleg, was die Kunstform Comic heute leisten kann.

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