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Held wider Willen: Eine Schlüsselszene der Reihe, in der Peter Parker zu Spider-Man wird.

© Taschen

60 Jahre Spider-Man: Spinne in Großaufnahme

Zum 60. Jahrestag des Superhelden lädt der Taschen-Verlag mit einer opulenten Neuauflage dazu ein, die Anfänge von Spider-Man wiederzuentdecken.

Der Verleger war dagegen. Die Leute hassen Spinnen, befand er, Teenager können keine Helden sein, Superhelden sollten keine persönlichen Probleme haben. Dann gab er der Figur namens Spider-Man doch noch eine Chance – der Rest ist Geschichte.

Das Eröffnungsbild des ersten Spider-Man-Comics.
Das Eröffnungsbild des ersten Spider-Man-Comics.

© Taschen

Der Aufstieg einer der heute weltweit erfolgreichsten Marken der Unterhaltungsindustrie begann mit elf Comicseiten, die in diesem Juni vor 60 Jahren im Heft Nummer 15 der Reihe „Amazing Fantasy“ veröffentlicht wurden, getextet von Stan Lee, der kurz zuvor die Fantastischen Vier und den Hulk erfunden hatte, und gezeichnet von Steve Ditko.

Vor Kurzem hat der Taschen-Verlag diese erste Spider-Man-Geschichte und die folgenden 20 Hefte der Reihe in einer opulenten Neuauflage als knapp fünf Kilo schweres Coffee-Table-Book im Format 30 mal 40 Zentimeter veröffentlicht, was etwa dem Doppelten der Ursprungsgröße der Hefte entspricht: „Marvel Comics Library, Spider-Man, Vol. 1, 1962-1964“ (Taschen-Verlag, 698 S., 150 €).

Dank dieser Dimension und einer hervorragenden Reproduktionsqualität werden hier zeichnerische Details sichtbar, die man in früheren Ausgaben oft nur erahnen konnte. Dazu trägt bei, dass die Herausgeber auf sehr dezente Weise die klassische Rasterpunkt-Kolorierung auf rauem Papier so wiedergegeben haben, dass sie der Anmutung der 60er-Jahre-Drucktechnik nahe kommt.

Im Gegensatz dazu wurde für frühere, im Taschenbuchformat gehaltene Sammelbände dieser Comic-Klassiker oft eine flächigere Hochglanzkolorierung gewählt, die zwar moderner aussieht, aber bei der die zeichnerischen Details weniger zur Geltung kamen.

Als schaue man Steve Ditko beim Zeichnen über die Schulter

So anschaulich wie nie zuvor lässt sich hier nun studieren, dass die Serie um den jugendlichen Helden wider Willen nicht nur erzählerisch, sondern auch zeichnerisch neue Maßstäbe im damals gerade nicht mal 25 Jahre alten Segment der Comic-Hefte setzte.

Nah dran: Originalzeichnungen der ersten Seiten der Reihe.
Nah dran: Originalzeichnungen der ersten Seiten der Reihe.

© Taschen

Und es lässt sich en detail verfolgen, wie Ditkos Zeichenstil, der den Helden gerade in den Action-Szenen am Anfang noch etwas steif wirken lässt, von Folge zu Folge souveräner, dichter und vor allem in den kinetischen Action-Szenen raumgreifender wird.

Die in comicgeschichtlicher Hinsicht beeindruckendsten Arbeiten finden sich am Ende des Sammelbandes: Hier wurden alle elf Originalseiten der ersten Spider-Man-Story genauso reproduziert, wie der Zeichner sie einst mit schwarzer Tusche zu Papier gebracht hat, inklusive aller Bleistiftstriche, Retuschen und technischen Anmerkungen zur weiteren Verarbeitung.

So lässt sich jetzt jedes Haar der Figuren, jede Bewegungslinie und jeder Spinnenweb-Streifen auf dem ikonischen Kostüm der Hauptfigur in Nahaufnahme betrachten, als schaue man Steve Ditko beim Zeichnen über die Schulter.

Stan Lee vermittelte seinen Fans das Gefühl, direkt zu ihnen zu sprechen

Ein weiterer Bonus dieses Sammelbandes ist, dass er anders als viele andere Gesamtausgaben der ersten Hefte auch die redaktionellen Seiten der Originalausgaben mit reproduziert. Hier finden sich Leserbriefe mit den Antworten von Stan Lee und andere Texte von ihm an sein Publikum, die zeigen, wie ernst er es und seine Bedürfnisse nahm.

Raumgreifend: Eine Doppelseite aus einem der späteren Spider-Man-Hefte.
Raumgreifend: Eine Doppelseite aus einem der späteren Spider-Man-Hefte.

© Taschen

Lee vermittelte den meist jungen Lesern das Gefühl, da spreche einer direkt zu ihnen. Das, sowie Lees naturalistische Dialoge und seine Fähigkeit, bemerkenswert komplexe Figuren mit wenigen Worten und Szenen lebendig erscheinen zu lassen, dürften – neben seinen Cameo-Auftritten in den Kinoverfilmungen seiner Geschichten - einen großen Anteil daran haben, dass der charismatische Autor bis zu seinem Tod im Jahr 2018 bei seinen Fans ein Ansehen genoss, das dem der von ihm erfundenen Superhelden kaum nachstand.

Wer sich angesichts des 60. Jahrestages möglicherweise zum ersten Mal mit den Anfängen von Spider-Man und seinen illustren Gegenspielern beschäftigt, kann hier zudem eine interessante Entdeckung machen. Ein Großteil der Plot-Ideen für die Blockbuster, die in den vergangenen Jahren die Wahrnehmung der Figur geprägt haben, sind hier bereits bis ins letzte Detail angelegt.

Das Titelbild von „Marvel Comics Library, Spider-Man, Vol. 1, 1962-1964“.
Das Titelbild von „Marvel Comics Library, Spider-Man, Vol. 1, 1962-1964“.

© Taschen

Das reicht von der Charakterisierung Peter Parkers alias Spider-Man als linkischer, für einen Superhelden ungewöhnlich realitätsnah gezeichneter Sympathieträger bis zu seinen mit bizarren Qualitäten ausgestatten Gegenspielern von Green Goblin über den Sandman bis Doc Ock, die Spider-Man auch im jüngsten Kinofilm „No Way Home“ von 2021 zu schaffen machen.

Eine kenntnisreiche Einführung von Marvel-Redakteur Ralph Macchio mit Informationen zu den Hintergründen der Figur und ihrer Erfolgsgeschichte runden diese Ausgabe ab. Ein angemessenes Geburtstagsgeschenk für eine Ikone der Popkultur und für ihre Fans – wenn auch leider nur auf Englisch und zu einem stolzen Preis, den sich zumindest der chronisch klamme Peter Parker nie hätte leisten können.

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