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Michael Girke, Sänger von Jetzt!

© Frank Wierke

Comeback der Band Jetzt!: Wir sind Wolken, sind Momente

Jetzt!, Anfang der achtziger Jahre in Herford gegründet, gilt als beste vergessene deutsche Band. Nun erscheint ihr Album "Wie es war“.

Das Leben, ein Lied. Es handelt von der Kindheitssiedlung, von den Blümchentapeten an der Wand und dem Radio, das sie lauter drehten, wenn Daliah Lavi lief. Erinnerungsbilder, unterlegt mit einer sanft treibenden E-Gitarre, einem pulsierenden Bass und glitzernden Keyboardgirlanden. „Ist Familie eine Wunde, die im Tiefsten nie heilt?“, fragt der Sänger und erzählt von der „tiefen Trübnis“ im Blick des Vaters, von der ersten Liebe und dem Kummer danach, dem „Riss in der Welt“. Was ihn am Leben hielt, war die Musik, die Songs von Bob Dylan und Leonard Cohen, in denen er damals, wie er singt, „mehr als zu Hause wohnte“.

Riss in der Welt

„Wie es war“ heißt die achteinhalbminütige, zwischen Blues und Folk schlingernde Ballade. Sie ist das Titelstück einer der bemerkenswerten Platten dieses Sommers. Jetzt!, vom Sänger und Gitarristen Michael Girke Anfang der achtziger Jahre in der ostwestfälischen Kleinstadt Herford gegründet, gilt als beste vergessene Band der deutschen Popgeschichte. Von den Songs, die die Gruppe damals auf ein paar Singles und Musikkassetten herausbrachte, nahm kaum jemand Notiz. „Wie es war“ ist nach fast vierzig Jahren ihr erstes reguläres Album.

Zusammen mit anderen Enthusiasten hatte Girke 1985 das Minilabel „Fast Weltweit“ gegründet, bei dem die Karrieren von einigen Musikern begannen, die als Zentralfiguren der sogenannten Hamburger Schule bekannt werden sollten. Dazu gehörten der spätere Blumfeld-Sänger Jochen Distelmeyer, Frank Spilker von den Sternen, Bernd Begemann und Bernadette La Hengst. Die Zeiten für deutschsprachige Popsongs waren damals schwierig, die Neue Deutsche Welle hatte einige Jahre zuvor ihr Ende im kommerziellen Ausverkauf und der künstlerischen Belanglosigkeit gefunden.

Neuanfang auf Trümmern

Michael Girke erzählte später, dass er ohnehin „kein Performer“ gewesen sei und das Rock’n’Roll-Leben nie ertragen habe. Er zog nach Berlin, um Literaturwissenschaft zu studieren, und löste seine Band auf. Ein bisschen Ruhm fand nur sein Song „Kommst du mit in den Alltag?“, den Blumfeld 1999 auf ihrem Album „Old Nobody“ coverten. Als vor zwei Jahren das Hamburger Label Tapete Records den Sampler „Liebe in den großen Städten“ herausbrachte, der 16 Jetzt!-Songs aus den Jahren 1984 bis 1989 enthält, fiel die Resonanz euphorisch aus. Davon bestärkt, beschloss Girke, noch einmal ins Studio zu gehen.

„Eins und eins ist unendlich viel“, eine Countryhymne mit fröhlich dengelndem Banjo, wirkt wie eine Antwort auf Hildegard Knefs Beziehungsschlager „Eins und eins, das macht zwei“. Während die Knef spottete, Liebe sei oft nur „Erfahrung anstatt Offenbarung“, bleibt sie für Girke eine Macht, die „all das Düstere besiegt, das in mich kriecht“. In „Wir sind Wolken, sind Momente“ beschwört er zu einem federnden Klavier die Schönheit des Augenblicks. Nichts bleibt ewig, schon gar nicht das Glück. „Was sind das für Menschen“, fragt er, „die sich lieben mit Vertrag“, die sich nicht mehr verführen, sondern gegeneinander klagen?

Geschichten können trösten

Girkes helle Stimme, die haucht und seufzt, die Silben dehnt und oft mehr spricht als singt, erinnert frappant an Distelmeyer. Der Produzent Thomas Wenzel, Bassist bei den Sternen und den Goldenen Zitronen, hat sie in sparsame Arrangements gebettet. Bei „Der Mann, den ich nicht fassen kann“, wird sie nur von einer Akustikgitarre begleitet.

Das Lied ist ein Porträt und eine Abrechnung, es geht um Girkes Vater, der seine Familie „mit erhobener Hand“ beherrschte. Als Kind hatte er Breslau brennen gesehen und war allein in den Westen geflohen. Das Trauma zerstörte die Fähigkeit zur Empathie, „Nähe, das war ein fernes Land“. Geschichten können trösten, davon ist Girke überzeugt. „Das Erzählen macht zu einem“, singt er, „was zersprungen ist.“

„Wie es war“ von Jetzt! ist bei Tapete Records erschienen

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