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Auf der Flucht: Ein Polizist jagt Bewohnerinnen und Bewohner Harlems am 20. Juli 1964.

© AFP

Colson Whiteheads Roman "Harlem Shuffle": Eine Frage der Einrichtung

Zeitporträt, Milieustudie, Gangsterroman: Colson Whitehead porträtiert in seinem wundervollen neuen Buch das Harlem der sechziger Jahre.

Es war sehr heiß an diesem 16. Juli 1964, einem Donnerstag, erst recht in den Straßenschluchten von New York City. Ein weißer Polizist in Zivil erschoss an diesem Tag in Harlem einen schwarzen Jungen, den 15-jährigen James Powell. Daraufhin folgten die schwersten Rassenunruhen in New York seit Jahrzehnten.

In Harlem und Bedford-Stuyvesant kam es zu Krawallen, Plünderungen und Schlägereien, bis zu 500 Menschen wurden verletzt, genauso viele festgenommen. „Einige Häuserblocks waren unberührt, und das war das Harlem, das man erkannte. Dann bog man um die Ecke, und zwei Autos lagen auf dem Dach wie fette Käfer, und ein Tabakladen-Indianer stand enthauptet vor einer Reihe eingeschlagener Fensterscheiben. Der Eingang eines ausgebrannten Lebensmittelladens klaffte wie ein Tunnel in die Unterwelt.“

So sieht das Ray Carney, der Held von Colson Whiteheads neuem, dieser Tage auf Deutsch und noch vor der US-Originalausgabe erscheinenden Roman „Harlem Shuffle“. (Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, München 2021. 381 S., 25 €.)

Carney geht nach den Krawallen durch die Straßen seines Viertels, froh darum, dass wieder Frieden herrscht, aus nicht zuletzt ganz eigennützigen Gründen. Er besitzt ein Möbelgeschäft, das von den Unruhen glücklicherweise verschont geblieben ist. 

Außerdem erwartet er Besuch aus dem weißen Midtown, den Vertreter einer angesagten Möbelfirma, mit der Carney zusammenarbeiten möchte. „Überall im Land war zu beobachten, dass sich die Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen verbesserten; vielleicht hielt die Einrichtungsbranche mit den sich veränderten Zeiten Schritt.“

"Verbesserte Beziehungen" zwischen schwarz und weiß

Colson Whitehead hat das Harlem der späten fünfziger und mittleren sechziger Jahre zu seinem zentralen Schauplatz gewählt. Damit begibt er sich wieder einmal in die US-Geschichte, wie zuletzt in seinen jeweils mit dem Pulitzer Preis und dem National Book Award ausgezeichneten Bücher „Underground Railroad“ und „The Nickel Boys“.

Erzählt Whitehead in „Underground Railroad“ von den Ursprüngen des Rassismus in den USA und dem Schicksal einer Sklavin, führt die Geschichte über die Verhältnisse an einer sogenannten Besserungsanstalt in Florida und den Missbrauch schwarzer Jungen dort in die Zeit der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre, des civil rights movement und des insistierenden Aufbegehrens gegen die Rassentrennung.

„Harlem Shuffle“ schließt hier an. Allerdings beginnt dieser Roman schon Ende der fünfziger Jahre, und nach den Harlemer Riots 1964 stehen die großen Rassenunruhen in Watts 1965 und zwei Jahre später in Detroit erst bevor, zu schweigen von der Ermordung Martin Luther Kings 1968.

Von den von Carney/Whitehead erwähnten „verbesserten Beziehungen“ zwischen schwarz und weiß kann also nur in Ansätzen die Rede sein.

Colson Whitehead, der 1969 in New York City geboren wurde, hat seinen Roman nach einem R&B-Song aus den frühen sechziger Jahren benannt; ein Song, der übrigens später sehr erfolgreich von den Rolling Stones gecovert wurde.

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Der Titel ist mit gutem Grund gewählt: Etwas Rhythmisches, Spielerisches, Popkulturelles steckt in diesem literarischen Harlem Shuffle. Einerseits erzählt er von dem Bemühen des Möbelladenbetreibers Carney, sich mit Frau und zwei Kindern eine bürgerliche Existenz aufzubauen.

Andererseits taucht der Roman tief in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen, nicht zuletzt von viel Kriminalität geprägten Milieus des Viertels in den späten fünfziger und mittleren sechziger Jahren.

Einen „Gangsterroman“ habe er primär schreiben wollen, bekannte Whitehead in Interviews, einmal verschnaufen von den von ihm bearbeiteten, letztendlich düster-konzentrierten Stoffen der Vorgängerromane. Tatsächlich betreibt Whitehead hier ein schönes Genre-Hopping, so wie er das schon einmal vor einem Jahrzehnt in seinem Zombie-Roman „Zone one“ getan hat, einer Mischung aus Dystopie (Seuche!) und Gegenwartsanalyse.

Die Gangster in „Harlem Shuffle“ sind durchaus brutal. Es sind aber auch viele kleine, unfreiwillige dabei, Verlierertypen, Lebenskünstler- und künstlerinnen am Rande der Verzweiflung. Häufig hat man den Eindruck, dass bei ihren Porträts Ironie mitschwingt, auch Humor durchscheint, etwa bei der Beschreibung eines Raubüberfalls auf das Hotel Theresa. „Harlem Shuffle“ trägt Züge von Ann Petrys Harlem-Roman „The Street“, James Baldwins „Ein anderes Land“ oder Bobby Womacks „Across the 110th Street“, aber eben auch von den Filmen der Coen-Brüder, von Tarantino, der schwarzen Popkultur. Hier die Widrigkeiten und Abgründe des Alltags und der jeweiligen Milieus, dort der Aufstiegswille, die besondere Komik, der Shuffle.

Das Hotel Theresa an der Kreuzung 7th Avenue und 125. Straße

Es beginnt 1959 mit dem ersten von drei großen Kapiteln. Ray Carney wandelt mit seinem Geschäft am Rande der Pleite. Deshalb handelt er nebenbei mit gestohlenen Waren und fährt des öfteren in den Süden Manhattans, um hier Schmuck an einen anderen Hehler zu verticken, einen Juwelier.

Als „krummer Hund“ will Carney nicht unbedingt gelten, doch so sicher ist er sich da nicht. Sein Cousin Freddy hat weniger Skrupel bei seinen kriminellen Machenschaften. Er ist es, der Carney häufig Halskette, Ringe oder Uhren vorbeibringt und ihn in jenen Raubüberfall auf das legendäre Harlemer Hotel Theresa verstrickt.

Gelegen an der Kreuzung 7th Avenue und 125. Straße, hatte dieses Hotel 1940 schon die Rassentrennung aufgehoben, gezwungenermaßen, nachdem Harlem zunehmend weniger von Juden und Italienern bevölkert wurde, sondern zur Domäne von Einwanderern aus der Karibik und Schwarzen aus dem Süden geworden war: „Der Geschäftsführung blieb keine andere Wahl, als ihre Türen zu öffnen, und wohlhabenden Schwarzen blieb keine andere Wahl, als dort abzusteigen, wenn sie Luxusbehandlung wollten.“

Der 1969 in New York City geborene Colson Whitehead 2019 auf der Frankfurter Buchmesse.
Der 1969 in New York City geborene Colson Whitehead 2019 auf der Frankfurter Buchmesse.

© imago images/Pacific Press Agency

Man merkt Whitehead an, wieviel Spaß es ihm gemacht haben muss, die realen Schauplätze in eine fiktive Geschichte einzubetten. Jede Ecke, jedes Diner und jeden Club scheint er abzubilden, wobei sein Harlem bisweilen an das Paris von Patrick Modiano erinnert und sich also nicht unbedingt eins zu eins auf Google-Maps nachverfolgen lässt.

Der historische Hintergrund, wie zum Beispiel die Krawalle, bildet jedoch immer die Folie, auf der Carney sich durch die Straßen bewegt und agiert. Der Hotel-Theresa-Raub, der auch ihn in Gefahr bringt, weil einer der Beteiligten ermordet wird, läuft für ihn einigermaßen glimpflich ab.

Es gibt Gegenwartsbezüge in diesem Roman

Zwei Jahre später, 1961, gerät er in eine weitere unangenehme Geschichte, dieses Mal auf einer höheren gesellschaftlichen Ebene. Ein Club von Harlemer Geschäftsleuten verweigert ihm die Aufnahme, der Dumas Club: „Jetzt wusste er, wo er stand, hatte es schon immer gewusst, auch wenn er zwischenzeitlich durcheinandergeraten war; da war die Frage der Wiedergutmachung.“

Auf Rache sinnierend beantwortet er diese ganz subtil, nicht wie sein Vater es gemacht hätte: „Haus abfackeln“. Er ist halt, wie Whitehead ihn beschreibt, seinem Wesen nach „eher der abwartende Typ“. Am Ende muss Carney sich mit einem weiteren Mordfall herumschlagen, wieder eine Gesellschaftsebene höher angesiedelt.

Nun geht es um den Mord an dem Nachkommen aus einer weißen Immobiliendynastie, mit dem sein Cousin zuletzt durch die Straßen gezogen war, Drogen konsumiert und zusammen gewohnt hatte.

Whiteheads Roman ist reich an Nebenfiguren. Da ist die Familie von Carneys Frau, die ihn als Schwiegersohn nur argwöhnisch akzeptiert, da sind seine Angestellten oder ein korrupter Polizist, eine Prostituierte, natürlich die vielen kleinen und nicht ganz so kleinen Ganoven.

Den meisten davon gehört Whiteheads Sympathie, insbesondere natürlich seinem Helden. Dieser balanciert stets auf einer auch moralisch nur schwer zu definierenden Linie von gut und bieder, von weniger gut und glamourös, kommt seinem ureigenen amerikanischen Traum aber von Kapitel zu Kapitel näher.

Whitehead ist als auktorialer Erzähler mal nahe an Carney dran, mal weniger, bei seinen Settings schaut er von weit weg auf die Figuren. Geschickt aber behält er die Fäden der Handlung in der Hand, und so ist „Harlem Shuffle“ gleichermaßen unterhaltsam wie Gesellschaftsstudie und Zeitporträt.

Dass sich die Verhältnisse zwischen Weißen und Schwarzen nur unwesentlich verbessert haben, „Harlem Shuffle“ durchaus Gegenwartsbezüge hat – das darf man mitlesen, ohne dass es Colson Whitehead gezielt beabsichtigt hätte.

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