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 Claude Lanzmann wurde 2013 von der Berlinale mit dem Goldenen Ehren-Bären ausgezeichnet.

© dpa

Claude Lanzmann zum 90.: Die Kunst des Fragens

Claude Lanzmann wurde als Regisseur von "Shoah" berühmt. Diesen Freitag feiert der große Dokumentarist seinen 90. Geburtstag, zu dem ein Band mit seinen journalistischen Texten erschienen ist.

Wenn es etwas gibt, was die Geschichte des Kinos Claude Lanzmann verdankt, dann, dass er die Bilder mit Worten aufgesprengt hat. Mit dem Reden über den Holocaust in seinem Jahrhundertfilm „Shoah“, jener über elf Jahre erarbeiteten, neunstündigen Dokumentation von 1985, die das Morden der Nazis in den Konzentrationslagern ohne jedes Archivmaterial ausschließlich in Gesprächen rekapituliert. In Gesprächen mit Überlebenden, mit Tätern und mit zu Untaten gezwungenen Juden. Zahlen, Strukturen, die Organisation des Massenmords lassen sich benennen, illustrieren. Die Annäherung an das Monströse, an den unbeschreiblichen Rest entzieht sich dem– Lanzmanns Film zeigt, wie es am ehesten ausgerechnet mit Worten geschehen kann.

Claude Lanzmann hört in „Shoah“ nicht auf zu fragen. Mit einer mitunter kaum erträglichen Beharrlichkeit besteht er auf Antworten, über die gewaltige Wucht der Erinnerungen hinweg, die seine Gesprächspartner verstummen lassen. Nur deshalb redet der Friseur Abraham Bomba, der den Opfern die Haare schneiden musste, bevor sie in die Gaskammer geschickt wurden, der erzählen will und dann wieder nicht, weil es seine Kräfte noch Jahrzehnte danach überfordert. Nur deshalb bricht der polnische Widerstandskämpfer Jan Karski sein Schweigen – weil Lanzmann ihn über ein Jahr lang behelligte, telefonisch, schriftlich, immer und immer wieder.

Als 18-Jähriger kämpfte Lanzmann in der Résistance

Weiterfragen, wenn einer weint. Benjamin Murmelstein, den einzigen Überlebenden der sogenannten Judenräte von Theresienstadt, der als Kollaborateur beschimpft wurde, mit großer Empathie, aber auch mit einer gewissen Härte nach seinen Gefühlen fragen – wie Lanzmann es in „Der Letzte der Ungerechten“ von 2013 tut. Die Kamera auch dann noch ruhig auf das Gegenüber richten, wenn einer innerlich zusammenbricht – dazu gehört ein Gran Unmenschlichkeit. Wer ihn persönlich erlebt hat, weiß um Lanzmanns Selbstbewusstsein, das nicht frei von Eitelkeit ist. In seinen Werken stellt er sie in den Dienst der Aufklärung, der Menschlichkeit, unermüdlich, unkorrumpierbar, bis ins hohe Alter.

"Shoah", Lanzmanns neunstündige Dokumentation über den Holocaust, ist auf DVD als Arte-Edition erhältlich.
"Shoah", Lanzmanns neunstündige Dokumentation über den Holocaust, ist auf DVD als Arte-Edition erhältlich.

© Arte

Der 1925 in Paris als Nachfahre jüdischer Einwanderer geborene Lanzmann studierte Philosophie, kämpfte mit 18 in der Résistance, mit 24 hatte er einen Lehrauftrag an der FU Berlin. Die Bedeutung von Zeugenschaft hat er immer betont, er nennt sie seine „fundamentale Haltung“. Ein Zeuge ist nahe dran und wahrt Distanz: Lanzmanns Zugang zur Jahrhundertfrage nach der Möglichkeit des Holocaust, die er auch in „Sobibor“ (2001) und „Le rapport Karski“ (2010) stellt, ist immer ein journalistischer gewesen. So fing er an, bevor er 1972 mit „Pourquoi Israel?“ sein autobiografisches Regiedebüt gab – als Journalist. Mit Texten für „Elle“ und für Sartres „Les Temps Modernes“, deren Herausgeber er bis heute ist. Mit Sartre und Beauvoir war er eng befreundet.

Lanzmann stürzte sich in die Ungewissheit des Denkens, schon als junger Journalist

Der Rowohlt-Verlag hat sie jetzt in dem opulenten Band „Das Grab des göttlichen Tauchers“ (543 S., 26,95 €) versammelt, im Nachgang zu Lanzmanns Memoiren „Der patagonische Hase“ (2010). Seine Reportagen, Porträts und Debattenbeiträge leben nicht nur von der überbordenden Lust, mit der er sich ins Ungewisse der Recherche und des Denkens stürzt wie der titelgebende Taucher auf dem Fresko von Paestum. Sondern auch vom Furor eines Citoyen, den die Höhenflüge und Abgründe der eigenen Spezies schier fassungslos machen, sei es die unergründliche Aura eines Belmondo, sei es das Schweigekartell der Kirche und ihre systematische Abwehr jeglichen Unrechtsbewusstseins anlässlich eines Missbrauchsprozesses gegen einen katholischen Pfarrer im Frühjahr 1958 (!).

Claude Lanzmann, der vielfach preisgekrönte, unter anderem mit dem Berlinale-Ehrenbären ausgezeichnete Meister des freien Worts, des Gesprächs, des unentwegten Disputs feiert an diesem Freitag seinen 90. Geburtstag.

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