zum Hauptinhalt
Die Frustrierte. Ein klassischer Strip von Claire Bretécher, für Komplettansicht auf Plus-Symbol klicken.

© Carlsen

Claire Bretécher (1940 - 2020): Die Soziologie der Knollennasen

So witzig war Gesellschaftskritik nur bei ihr: zum Tod der französischen Zeichnerin Claire Bretécher.

Was für eine Fehleinschätzung. René Goscinny war es, der Autor von „Asterix“ und „Der kleine Nick“, der 1963 einer jungen Zeichenlehrerin die Zusammenarbeit für die von ihm verfasste Comicserie „Le Facteur Rhésus“ anbot. Claire Bretécher hieß sie, war damals gerade 23 Jahre alt – und wurde bald darauf von Goscinny wieder davongeschickt. Sie solle doch wiederkommen, wenn sie besser zeichnen könne.

Die so Abgefertigte ging ihren eigenen Weg, wurde in den folgenden Jahrzehnten eine der beliebtesten und einflussreichsten europäischen Comiczeichnerinnen. Sie verstarb am Dienstag in Paris im Alter von 79 Jahren, wie ihr Verlag Dargaud mitteilte.

Sie inspirierte Franziska Becker, Catherine Meurisse und Ralf König

Was für eine Ausnahme Bretécher in der lange von Männern dominierten Welt der Comics war, zeigt auch eine Neuauflage ihres wohl wichtigsten Werkes, der Serie „Die Frustrierten“. Diese schwarzweißen Kurzgeschichten um Figuren aus der linksintellektuellen Mittelschicht veröffentlichte sie von 1973 bis 1981 in der französischen Wochenzeitschrift „Le Nouvel Observateur“.

In diesem Frühjahr wird die Reihe in der „Bibliothek der Comic-Klassiker“ beim Hamburger Carlsen-Verlag neu aufgelegt. Deren Programm wird von männlichen, vor allem bei jungen Lesern populären Abenteurern wie Popeye, Prinz Eisenherz und Hägar dominiert, die sich auf den Buchcovern in kämpferischer Pose zeigen.

Bretéchers Buch hingegen zeigt eine Frau mittleren Alters mit Knollennase und mürrischem Blick, die nach vorne gebeugt auf einer Couch sitzt und den Betrachter provokativ anstarrt – ein Bild, das im direkten Vergleich mit den männlichen Helden Verweigerung und Provokation zugleich auszudrücken scheint. 

Claire Bretècher auf einem Foto von 1987.
Claire Bretècher auf einem Foto von 1987.

© Georges BENDRIHEM / AFP)

Emanzipation, Generationenkonflikte, Erziehungsprobleme, Beziehungskrisen, gesellschaftliche Veränderungen, große Politik – die Themen, die Bretécher mit ihrem flüchtig wirkenden und doch klaren Tuschestrich, einem scharfsinnigen, gelegentlich ins Melancholische kippenden Humor und viel Gespür für gesprochene Sprache zu Papier brachte, hatte man so im Comic bis dahin noch nicht gesehen.

Dafür wurde sie vor vier Jahren beim Internationalen Comic-Salon Erlangen mit einem Max-und-Moritz-Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Der französische Philosoph Roland Barthes kürte Bretécher 1976 zur „wichtigsten Soziologin des Jahres“. Eine Einschätzung, die sie in einem Interview als „Unsinn“ abtat. Sie beobachte nicht, erklärte Bretécher, ihre gezeichneten Geschichten kämen aus ihrem sozialen Umfeld und handelten mehr oder weniger von ihr selbst.

Bretéchers wichtigste Arbeiten, zu denen nach „Die Frustrierten“ später auch die Erlebnisse der pubertierenden Teenagerin Agrippina gehören, wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt. Und sie inspirierte zahlreiche Zeichnerinnen und auch den einen oder anderen Zeichner mit ihrem Strich und ihrem emanzipatorischen Witz: von „Emma“-Cartoonistin Franziska Becker, Marie Marcks („Süddeutsche Zeitung“) Catherine Meurisse („Charlie Hebdo“) bis hin zu Deutschland wohl bekanntestem und erfolgreichstem Comiczeichner Ralf König. „Mit ihren Frustrierten war sie mir damals Idol und Vorbild“, schrieb der am Dienstag auf seiner Facebook-Seite. „Ihr schneller, treffsicherer, hochkomischer Strich ist unerreicht und begeistert mich seit vier Jahrzehnten. Ein Jammer.“

„In den sechziger und siebziger Jahren, mitten im gesellschaftlichen Umbruch, war Claire Bretécher auf den Fotos von den Redaktionskonferenzen des Comicmagazins Pilote als einzige Frau in einer Anzug tragenden Herrenriege zu sehen“, erinnert sich Dirk Rehm, Gründer des Berliner Verlages Reprodukt, der die „Agrippina“-Alben auf Deutsch veröffentlicht. Doch unter der Führung von René Goscinny begannen die Bandes Dessinées, wie Comics in Frankreich genannt werden, Mauern einzureißen. „Plötzlich wurden Comics auch von erwachsenen Leser*Innen akzeptiert, und trotzdem blieb Claire Bretécher über lange Jahre die einzige, die eine weibliche Perspektive auf gesellschaftliche Strömungen und das Bild der Frau offenbarte“, sagt Rehm.

Erst Mitte der Siebziger seien mit dem Aufkommen von Zeitschriften wie „Métal Hurlant“ oder später „À Suivre“ weitere Foren für weibliche Stimmen geschaffen worden. Dennoch habe es bis in die 2010er-Jahre gedauert, dass die Geschlechter bei der Produktion von Comics ein ausgeglicheneres Verhältnis erlangten – der Verdienst von Claire Bretécher.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false