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Christoph Schlingensief wird 1998 für die Partei "Chance 2000". 

©  Andreas Altwein/dpa

Christoph Schlingensief und Helmut Kohl: Der Künstler und sein Kanzler

Helmut Kohl und die Künste standen mit dem Rücken zueinander. Nur einer scherte aus: In den 90er Jahren arbeitete sich Christoph Schlingensief an dem Kanzler ab. Aber so richtig.

Ein Willy Brandt war er nicht. Undenkbar, dass prominente Autoren für Helmut Kohl Wahlkampf gemacht hätten wie für den SPD-Politstar in den frühen 70er Jahren. Kohl und die Künste, sie standen mit dem Rücken zueinander. Was natürlich nicht verhinderte, dass der Kanzler selbst zum Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung wurde. Vor allem für die Meister des schnellen Striches war die legendäre „Birne“ ein Geschenk, wie es nicht oft vorkommt – gerade ist es mit Donald Trump wieder mal so weit. Die 80er Jahre waren Hochzeit für die politische Karikatur – wegen Kohl, aber auch wegen seines damaligen Antagonisten Franz Josef Strauß.

Ansonsten aber ließ der Langzeitkanzler die Künstler in Deutschland ziemlich kalt. Mit einer großen Ausnahme. In den 90er Jahren arbeitete sich Christoph Schlingensief noch einmal an Kohl ab – aber so richtig. Soll heißen: mit Mordabsichten. „Tötet Helmut Kohl“, erschallte es 1996 im Prater. Dran glauben musste allerdings nur eine Puppe, übel zugerichtet, schließlich enthauptet, garniert mit André Bretons Definition des surrealistischen Terrors: „Die erste surrealistische Tat besteht darin, mit einer Pistole in der Hand auf die Straße zu treten und in die Menge zu schießen.“ Im Geist der Volksbühne, dem Aufreißen und Freisetzen, dem Nicht-einverstanden-Sein, der Widerborstigkeit und Unauslesbarkeit, war das eine durchaus konsistente künstlerische Strategie. Die realpolitisch erst mal nur die Konsequenz hatte, dass der damalige Kultursenator Peter Radunski bei Frank Castorf anrief und fragte, was das denn solle.

Er wollte Kohls Urlaubsort überschwemmen

Schlingensief ging immer über alle Grenzen, in seinen Filmen oder später als Opernregisseur, bei „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ in Berlin oder „Parsifal“ in Bayreuth. Seine Arbeiten entwickelten etwas, das mit Sog, Aura, Faszination nur unzulänglich beschrieben ist und auf jeden Fall einmalig war. Begonnen hatte seine Auseinandersetzung mit der Kohl-Partei bereits 1993 mit dem Stück „100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“. Es war seine erste Theaterarbeit überhaupt an der Volksbühne. Schlingensief legte nach, wurde 1997 festgenommen, weil er mit einem Schild bei der Documenta aufgetreten war, das den Aufruf „Tötet Helmut Kohl!“ wiederholte. Eine „Ehre“, die, wie man fairerweise sagen muss, auch Jürgen Möllemann zuteilwurde.

1998 dann die Gründung der Partei „Chance 2000“. Schlingensief wollte auch hier Grenzen überwinden, die Politik mit den Mitteln der Kunst erobern. Was heute ein ähnlich manischer Performer wie Jonathan Meese noch viel radikaler weitertreibt, wenn er allüberall die „Diktatur der Kunst“ einfordert, weil einzig sie uns noch retten kann. Ihre größte Aufmerksamkeit erlangte „Chance 2000“ mit der Aktion „Baden im Wolfgangsee“. Christoph Schlingensief lud alle Arbeitslosen in Deutschland ein, gleichzeitig in den See im Salzkammergut zu springen, auf dass St. Gilgen überflutet werde, Helmut Kohls 30 Jahre lang aufgesuchter Urlaubsort. Kunst, Performance, Spaß, alles ging bei ihm eine unentwirrbare, unwiderstehliche Liaison ein. St. Gilgen allerdings steht weiterhin, Kohl ist dort Ehrenbürger, die örtliche Bäckerei hat eine „Kanzlertorte“ im Angebot. Es kamen damals nur ein paar hundert Arbeitslose. Aber Kohl wurde noch im gleichen Jahr als Kanzler abgewählt.

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