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Schriftsteller Christoph Hein

© picture alliance / dpa

Christoph Heins Roman "Glückskind mit Vater": Fluchtpunkt Marseille

Wege aus der kalten Heimat: Christoph Heins großer Deutschland-Roman „Glückskind mit Vater“.

Konstantin Boggosch, geborener Müller, will sich nicht erinnern. Zumindest nicht auf Drängen der Lokalreporterin, die den pensionierten Direktor des Pestalozzi-Gymnasiums um ein Interview bittet: Zur Wiedereröffnung des renovierten Schulgebäudes plane der „Kurier“ eine Sonderseite, erklärt sie ihm. Doch Boggosch sträubt sich, deklariert seine Vergangenheit zum „abgeschlossenen Präteritum“ und bescheidet die „kleine Redaktionsmaus“ negativ: „Mit unseren Erinnerungen versuchen wir ein missglücktes Leben zu korrigieren, nur darum erinnern wir uns. Es sind die Erinnerungen, mit denen wir uns gegen Ende des Lebens beruhigen. Es sind diese fatalen Erinnerungen, die es uns schließlich erlauben, Frieden mit uns selbst zu schließen.“ Als dann noch ein Brief von der Steuerfahndung für Konstantin Müller eintrifft, beginnt Boggoschs Frau Marianne in seiner Vergangenheit herumzustochern. Er ist froh, sie in die Kur verabschieden zu können.

Wie in „Weiskerns Nachlass“ (2011) kommt auch in Christoph Heins neuem Roman „Glückskind mit Vater“ einem Schreiben vom Finanzamt eine entscheidende dramaturgische Wirkung zu. Im ersten Fall versetzte eine astronomisch hohe Zahlungsaufforderung einen Leipziger Privatdozenten in Existenzangst mit semikriminellen Folgen. Nun zieht die Heraufbeschwörung seines Allerwelts-Geburtsnamens Boggosch den Boden unter den Füßen weg. Dabei befördert der Autor seine Leser von der Außen- in die Ich-Perspektive des Helden: Indem Konstantin auf Seite 39 seiner Frau ins Taxi hilft und die Wagentür mit einem „Plopp“ ins Schloss fällt, ist der Weg frei für das Erzählen in der ersten Person und einen erschütternden und gleichzeitig – wie sollte es beim verkappten Humoristen Christoph Hein anders sein – tragikomischen Lebensbericht. Zwei Binsenwahrheiten grundieren diesen Roman: Dass man sich seine Eltern nicht aussuchen kann und dass das Leben die besten Geschichten schreibt. Ausdrücklich verweist Hein eingangs darauf, dass das Erzählte auf authentischen Vorkommnissen beruhe und die Personen nicht frei erfunden seien.

Über Marienfelde geht's zum Onkel nach München

Am 14. Mai 1945 wird Konstantin in G. (wohl eine Chiffre für Schkopau, dem Sitz der Buna-Werke) als zweiter Sohn des Kriegsverbrechers Gerhard Müller geboren. Der Direktor der Gummiwerke Vulcano war bis Kriegsende der reichste Mann am Ort. Als glühender Nationalsozialist und Verfechter der NS-Strategie „Vernichtung durch Arbeit“ plante er, seine Fabrik um ein Konzentrationslager zu erweitern. Das dafür vorgesehene Wäldchen taucht in den Albträumen seines Sohnes auf, der den in Polen Hingerichteten nicht mehr kennenlernte.

Durch die Enteignung verarmt und durch die Taten ihres Mannes zutiefst beschämt, nimmt Müllers Witwe für sich und ihre Söhne gegen alle Widerstände wieder ihren Mädchennamen Boggosch an. Doch es hilft nichts, die Familie wird in der Sowjetischen Besatzungszone geächtet, der sprachbegabte Konstantin nicht zum Gymnasium zugelassen. Bevor er eine verhasste Lehrstelle antritt, macht sich der erstaunlich reife 14-Jährige heimlich in die Welt auf: über das West-Berliner Aufnahmelager Marienfelde zum Bruder seines Vaters nach München. Dieser Richard, den Hein mit wenigen Strichen als eiskalten Herrenmenschen zeichnet, ekelt im Verbund mit der bayerischen Haushälterin den Störenfried aus dem Haus. Er gibt ihm aber Geld fürs Internat, das Konstantin angeblich besuchen will.

Hier setzt der nach „Landnahme“ (2004) zweite große Deutschland-Roman des 71-jährigen Christoph Hein zu einer mediterranen Ausfahrt an: Konstantin schlägt sich nach Marseille durch, wo er hofft, in die Fremdenlegion einzutreten. Dort wird er ausgelacht, findet jedoch Arbeit als Fremdsprachen-Korrespondent bei einem Antiquar: „Ich war glücklich in diesem Zimmer, in Marseille, bei meinen Patrons. Ich war nicht weiter der Sohn meines Vaters, das Kind eines Verbrechers, jetzt war ich ein Franzose. Ein Franzose, der Heimweh nach seiner Mutter hatte, so viel Heimweh, dass er nachts manchmal vor sich hin weinte.“

In Marseille wandelt er auf den Spuren von Jules und Jim

Konstantin ist am Fluchtpunkt Marseille ganz das „Glückskind“, als das ihn seine Mutter stets gesehen hat. Enthusiastisch wandelt er auf den Spuren von Truffauts „Jules und Jim“. Bevor sich aber zwischen ihm und den ehemaligen Résistance-Kämpfern rund um den Antiquar eine deutsch-französische NachkriegsEntente entspinnen kann, wirft erneut der Kriegsverbrecher Müller seinen Schatten: Konstantin muss und will zurück in die kalte Heimat, ausgerechnet am Tag des Mauerbaus 1961.

Die Aufnahmeprozedur der DDR-Behörden schildert Hein in all ihren Details spiegelbildlich zu der in Marienfelde, wie er überhaupt in jeder Episode der erzählten Zeit von rund siebzig Jahren eine stimmige Atmosphäre erschafft. Einzig störend ist die Vernachlässigung des Genitivs in wiederkehrenden Wendungen wie „wegen seinem Vater“ oder „die Hinrichtung von unserem Vater“ – offenbar soll das Umgangssprache suggerieren.

Konstantin tauscht Marseille gegen das kriegszerstörte Magdeburg, arbeitet wieder in einem Antiquariat und holt das Abitur nach, bis sich das Blatt abermals wendet: An der Filmhochschule wird er aufgrund „unterlassener und verheimlichter Angaben zur Person“ nicht angenommen, sein junges Familienglück verliert er auf erschütternde Weise, ebenso die charakterlich feine Mutter, die zweite tragische Heldin. Sie haucht als postumes Opfer ihres unheimlichen Mannes ihr Leben mit Mitte fünfzig im Souterrain der Villa des älteren Sohnes Gunthard aus. So richtet sich Konstantin in seinem Schicksal ein. Er wird Pädagoge, dabei immer wieder von seiner Personalakte behindert und zurückgeworfen.

„Glückskind mit Vater“ erinnert an ein Panorama-Gemälde. Es lässt an das Abrechnungsbuch „Der Vater“ von Niklas Frank denken, Sohn des Kriegsverbrechers Hans Frank, oder an Heinrich Manns satirischen Roman „Der Untertan“. Mag Boggosch auch ein reales Vorbild haben: Durch die Tiefe seines Wesens, die sich mit Sprödigkeit tarnt, ist er ein echter Hein’scher Protagonist geworden, der Held eines Abenteuerromans, aus dessen gut 500 packenden Seiten es kein Entrinnen gibt.

Christoph Hein: Glückskind mit Vater. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 527 Seiten, 22,95 €.

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