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Frauenfotograf. Szene aus "La jetée" (Am Rande des Rollfelds), jenem 26-minütigen Science-fiction-Film, der fast nur aus Standbildern besteht und Chris Marker 1962 schlagartig berühmt machte.

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Chris Markers postumer Ruhm: Heimatforschung im Fremdland

Er war ein filmischer Essayist, ein Fotograf, ein Schriftsteller - und überhaupt ein künstlerischer Tausendsassa. Drei Jahre nach seinem Tod ist Chris Marker lebendiger denn je, und das Netz sammelt eifrig seine Spuren.

Von Gregor Dotzauer

Zu seinem 100. Geburtstag im Jahr 2021, könnte man argwöhnen, wird er endgültig ein Fall fürs Museum geworden sein. In seinem (zeitweise auch politisch) revolutionären Potenzial gebändigt wie der Situationist Guy Debord in der Pariser Bibliothèque Nationale. Zum nationalen Heiligtum erklärt wie Jean-Luc Godard im Centre Pompidou. Und für kunstsinnige Flaneure inszeniert wie Harun Farocki im Essener Museum Folkwang – oder jüngst im Haus der Kulturen der Welt. Doch man würde nicht nur die Londoner Whitechapel Gallery unterschätzen, die Chris Marker im vergangenen Jahr eine große Retrospektive ausrichtete. Auch die poetische Widerständigkeit seiner Kunst, die sich nie auf den Wirkungskreis des Kinos beschränken ließ, ist ungebrochen.

Drei Jahre nach seinem Tod im Juli 2012 ist Marker lebendiger denn je, und zwar in einem vielgestaltigen Werk, hinter dem er als Person verschwinden wollte. Christian François Bouche-Villeneuve, 1921 im Westen von Paris geboren, versteckte sich bekanntlich hinter rund 20 Pseudonymen, und wer jenseits seiner Essayfilme ein Bild von ihm gewinnen wollte, musste mit einem Katzen-Avatar vorlieb nehmen oder einem Porträt mit vorgehaltener Maske. Neben der französischsprachigen Seite www.chrismarker.ch informiert vor allem Daniel L. Potters englischsprachiger Blog chrismarker.org so gründlich über alle Schätze und Neuigkeiten, dass man sich tagelang in den Materialbergen verlieren kann.

Marker war immer ein Mann für die Ränder. Ein Dokumentarist, der sich nach dem Fiktionalen streckte. Ein Fotograf, der das schriftliche Kommentieren seiner Aufnahmen nicht lassen konnte. Ein Asienreisender, der insbesondere Japan mit der Seele suchte, aber in einem ewigen Transitraum stecken blieb. Ein Mythomane mit aufklärerischen Interessen. Und ein Erinnerungskünstler, der sich in der virtuellen Welt von „Second Life“ einrichtete. Die lange Liste seiner Aktivitäten verkürzte er am liebsten zum Begriff des bricoleur, des Bastlers. Schon dem „Abschied vom Kino“, den ihm 2008 das Zürcher Museum für Gestaltung nachsagte, entsprach nie eine Ankunft im Kino.

Wenn es aber ein Tor gab, durch das er die Welt der Kunst betrat, war es die Literatur. In den 40er Jahren schrieb er im linkskatholischen Umfeld von „Esprit“, auf deren Website unter dem Autorenstichwort Marker zahlreiche Artikel zu finden sind. 1951 erschien, zwei Jahre nach dem Original, sein erster und einziger Roman „Die Untrüglichen“ (Le Coeur net) im Verlag der „Frankfurter Hefte“, übersetzt von Walter Maria Guggenheimer, auf Deutsch. Alfred Andersch bezeichnete den im Indochinakrieg angesiedelten Fliegerroman in der „FAZ“ damals als „eine Suite in literarischem Jazz“, die „das Stigma des genialen Jugendwerks“ trage: „Alle Schwächen heben sich auf in einer seelischen Gespanntheit ohnegleichen, in der fordernden Unbedingtheit der Jugend.“

Zwischen Asien und Afrika. Szene aus "Sans soleil" (1983), der als Höhepunkt von Chris Markers essayistischer und erzählerischer Verknüpfungskunst gilt.
Zwischen Asien und Afrika. Szene aus "Sans soleil" (1983), der als Höhepunkt von Chris Markers essayistischer und erzählerischer Verknüpfungskunst gilt.

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Von der lyrischen Transparenz seiner frühen Filmessays, wie sie in den beiden Bänden „Commentaires“ gesammelt sind, die chrismarker.org als PDF-Scan zum Download anbietet, ist dieser hohe Ton noch weit entfernt, und einen film imaginaire wie „L’Amérique Rêve“ mit seinen popkulturellen Verweisen würde man ihm kaum zutrauen. Die Bild-Text-Verknüpfungen, die „Lettre de Sibérie“ oder „Si j’avais quatre dromadaires“ ausmachen, sind auf dem Papier sogar frischer geblieben als im zuweilen erstickenden Voice-over-Verfahren der Filme. Nicht zufällig ließ sich der berühmte Grafikdesigner Richard Hollis bei der Gestaltung von John Bergers „Sehen“ (Ways of Seeing) von den „Commentaires“ inspirieren.

Manche Werke schlummern aber auch noch in den Antiquariaten. 1985 kam im Ostberliner Galrev Verlag sein Tokio-Band „Das Fremdland“ (Le dépays) heraus. Er enthält neben wunderbaren Schwarz-Weiß-Aufnahmen auch eine Art Lebensmotto: „Der Pfeil hat sowenig ein Ziel, wie das Leben eines hat: was zählt, ist die Höflichkeit gegenüber dem Bogen. So stehen die Dinge in meinem Land, meinem eingebildeten Land, meinem Land, das ich ganz und gar erfunden, das ich vollkommen eingerichtet habe, mein Land, das mich so sehr entfremdet, dass ich nicht mehr ich selbst bin, es sei, denn, in dieser Entfremdung. Mein Fremdland.“

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