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Total lokal. Jérôme Bel studiert seine Arbeiten (hier „Gala“) mit Darstellern vor Ort ein, anstatt das Team einzufliegen.

© Dorothea Tuch

Choreografen verzichten aufs Fliegen: "Ich will mit meiner Arbeit nicht mehr den Planeten zerstören"

Tanz und Ökologie: Die weltweit gefeierten Choreografen Jérôme Bel und Tino Sehgal verzichten aufs Fliegen. Eine Ausnahme in dem globalisierten Milieu.

Von Sandra Luzina

Der französische Choreograf Jérôme Bel befand sich gerade in einem Flugzeug von Melbourne nach Paris, als er seine erste ökologische Entscheidung traf. Das war 2007, in Australien hatte er sein Stück „The show must go on“ gezeigt. An Bord las er einen Artikel, in dem gefordert wurde, dass wegen der Erderwärmung alle ihren CO2-Fußabdruck reduzieren müssen. „Neben mir im Flugzeug saßen zwanzig Tänzer meiner Company. Mir kam die Idee, von nun an nicht mehr mit der ganzen Gruppe zu reisen, sondern stattdessen zwei Tänzer in andere Länder zu schicken, um mein Stück mit lokalen Tänzern aufzuführen.“

Es blieb nicht das einzige Aha-Erlebnis. Bel hat vielmehr einen Bewusstseinsprozess in mehreren Etappen durchlaufen und wurde so zum radikalen Umweltaktivisten. Wie Satire klingt die folgende Anekdote: 2004 erzählte ihm die Leiterin eines Pariser Theaters voller Stolz, dass sie eine Performance zum Thema Nachhaltigkeit eingeladen habe. Als Bel sie fragte, woher die Company komme, entgegnete sie: aus Australien. „In dem Moment erkannte ich, dass da was gewaltig schiefläuft: Wie kann man etwas künstlerisch ausdrücken, während man beim Produzieren das genaue Gegenteil macht?“, echauffiert sich Bel.

Eine regelrechte Krise durchlebte er im Februar dieses Jahres. „Ich saß in meinem Apartment in Paris und drehte die Heizung runter, um Energie zu sparen. Plötzlich wurde mir bewusst, dass in diesem Moment zwei meiner Assistenten, die in Hongkong ,Gala‘ einstudiert haben, im Flugzeug sitzen. Zwei andere sitzen im Flieger aus Lima. Ich sagte zu mir, dass ich ein Heuchler bin, dass ich mich selbst belüge.“ Nach dieser Einsicht sei er zunächst in eine Depression gefallen. „Danach habe ich die Entscheidung getroffen, dass ich nicht mehr damit weitermachen will, mit meiner Arbeit den Planeten zu zerstören.“ Keiner fliegt mehr, weder er selbst noch einer seiner Tänzer – dieser Beschluss hat in der Gruppe erst mal Panik ausgelöst. Doch dann haben alle gemeinsam nach Wegen gesucht, wie sie die Arbeit fortzuführen können, ohne die Umwelt zu belasten.

Die Proben werden per Skype abgehalten

Vor Kurzem hat Bel in Wien zu einem Thinktank zum Thema Tanz und Ökologie eingeladen. Doch ernüchtert stellt er fest: „Das choreografische Milieu ist leider völlig festgefahren in dem System der extremen Globalisierung, das einen horrenden CO2-Fußabdruck produziert. Die meisten der Leute, die eine führende Position im Tanz haben und wie ich in den Fünfzigern sind, wollen gar nichts ändern.“ Bel, der eine Tochter im Teenageralter hat, baut stattdessen auf die Jugend. Viele Jugendliche setzen sich mit ihm in den sozialen Medien in Verbindung, seit er sein ökologisches Engagement öffentlich gemacht hat. „Diese jungen Menschen geben mir ein wenig Hoffnung, denn ich erwarte nicht mehr viel von meiner eigenen Generation.“

Beim „Tanz im August“ präsentiert Bel am morgigen Freitag die Uraufführung „Isadora Duncan“ – und anders als in den Jahren zuvor wird er mit dem Zug anreisen. Schon bei den Proben hat der Nachhaltigkeitsgedanke eine große Rolle gespielt. Das Solo, das in Berlin gezeigt wird, hat Bel mit der Tänzerin Elisabeth Schwartz in Paris erarbeitet. Ein zweites Solo entsteht mit Catherine Gallant, die in New York lebt. Die Proben werden per Skype abgehalten. Für die stark nachgefragten Stücke „The show must go on“ und „Gala“ hat Bel die Partituren überarbeitet, sodass Choreografen in Taipeh, Mexico City oder Buenos Aires sie mit lokalen Performern einstudieren können.

Sehgal wollte sein Engagement nicht an die große Glocke hängen

Aber ist es denn möglich, ökologische Prinzipien zu befolgen, ohne sich als Künstler einzuschränken? „Seit ich beschlossen habe, meinen ökologischen Fußabdruck so weit wie möglich zu reduzieren, kann mich wieder im Spiegel anschauen“, so Bel. „Auf der professionellen Ebene macht es mich innovativer. Ich habe mehr Ideen, gehe größere Risiken ein. Wir sollten keine Angst vor Veränderung haben!“

Der deutsch-britische Künstler und Choreograf Tino Sehgal ist zwanzig Jahre lang in kein Flugzeug gestiegen. Er sei oft gefragt worden, ob er Angst vorm Fliegen habe, erzählt er. Für ihn ging es allein darum, das Klima zu schonen. Aber er wollte sein ökologisches Engagement bislang nicht an die große Glocke hängen. Heute findet er es wichtig, darüber zu sprechen. Mittlerweile reist er ab und zu wieder mit dem Flugzeug. „Für mich ist wichtig, die CO2-ärmste Alternative zu benutzen beim Reisen – auch beim Überqueren von Ozeanen.“ Mit dem Schiff in die USA zu fahren, so wie er es einige Male getan hat, kann die Luft mehr verschmutzen als ein Flug.

Zwanzig Jahre nicht im Flugzeug: der Künstler und Choreograf Tino Sehgal.
Zwanzig Jahre nicht im Flugzeug: der Künstler und Choreograf Tino Sehgal.

© Thilo Rückeis

Der Nachhaltigkeitsdiskurs gehörte zu Sehgals Sozialisation Ende der 80er. Die Frage, wie man etwas produzieren kann und dabei möglichst wenig Schadstoffe erzeugt, bildete den Ausgangspunkt seiner künstlerischen Praxis: „Ich bin bei Stuttgart aufgewachsen, in einem Ort, wo Daimler Benz, IBM und Hewlett Packard produziert haben – ich konnte deren Anlagen von meinem Kinderzimmerfenster aus sehen. Dieser ungeheure Materialumsatz, der bei der Industrieproduktion geschieht, geht fast immer mit dem Ausstoß von CO2 einher, das ja bekanntlich den Klimawandel generiert. Für mich war die Frage: Was kann man machen, das sich nicht an dieser Materialumwandlung beteiligt? So bin ich zum Tanz gekommen.“

Berühmt wurde Tino Sehgal, der mit Bel eng befreundet ist, mit choreografierten „Situationen“; die realisiert er heute in Museen weltweit. Dabei setzt er schon lange lokale Performer ein, was bei dreimonatigen Ausstellungen durchaus Sinn ergibt. Im Herbst wird Sehgal mit vier Assistenten mit dem Zug nach Japan fahren. Zurück nehmen sie dann einen Flieger, aber nicht den billigsten, sondern den mit den geringsten Emissionen. Den ermittelt er mithilfe der Kompensationsagentur Atmosfair. „Wichtiger als Dogmatik ist für mich das praktische Detailwissen und das konsequente Bewusstsein, nachhaltiges Verhalten in den Alltag zu integrieren.“ Im internationalen Kunst- Jetset ist er damit die Ausnahme.

Wieso lebe ich auf Kosten anderer?

Doch seine eigene Generation wolle er nicht abschreiben, sagt der 43-Jährige. Der gesellschaftliche Druck, nachhaltig zu handeln, sei größer geworden – und die Jugendlichen, die an den „Fridays for Future“ teilnähmen, zögen ihre Eltern zur Rechenschaft. Im Kern gehe es um eine ethische Frage: Wieso lebe ich auf Kosten anderer? „Ein Mensch in der Ersten Welt verbraucht viel mehr CO2 als jemand in Afrika oder Indien“, stellt er fest.

[„Isadora Duncan“: 16. & 18. 8., 19 Uhr, 17. 8., 21 Uhr im Deutschen Theater]

Bei der UN-Klimakonferenz in Bonn 2017 hat Sehgal einen Workshop zum Thema Nachhaltigkeit mit Jugendlichen abgehalten. Er würde es wieder tun, wenn man ihn fragt. Auch der Kunstbetrieb müsse sich ändern, findet er – und sieht die Förderinstitutionen in der Pflicht. Bei Distanzen von unter 1200 Kilometern sollten Flugtickets nicht erstattet werden, schlägt er vor. Nun mögen einige einwenden, für so erfolgreiche europäische Künstler wie Sehgal und Bel sei es leicht, auf Privilegien zu verzichten. Aber beide sind überzeugt: Jeder Einzelne muss jetzt Verantwortung übernehmen. Vielleicht sind sie ja Vorreiter einer neuen Bewegung, die versucht, Kunst und ökologisches Handeln in Einklang zu bringen.

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