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Für die einen ist es Klanggemisch, die Nachbarn nennen es Lärm. Bevor die Probe beginnt, schließt der Chor deshalb die Fenster.

© David von Becker

Chor 60+: Die Altstimmen

Ihr Chor muss nicht perfekt sein. Das ist das Schöne, deswegen gehen sie hin. Sie alle sind über 60. Im Leben haben sie kaum gesungen, waren damit beschäftigt, sich anderweitig Gehör zu verschaffen. Auftreten? „Das können wir nicht!“ Heute tun sie es doch – zur Fête de la Musique

Bernhard Jokel dachte: Rufste gleich mal Gertchen an. Er rief ins Telefon: „Rock- und Popmusik, dit war doch unsre Jugend, wo die Haare an die Ohrn jestoßen sind und wir als langhaarje Penner beschimpft wurden!“ Dann wählte er die Nummer, die in der Zeitung stand, telefonierte mit Neukölln, wo sich gerade ein Chor gründete. „Ick bin Herr Jokel und bring meen Kumpel mit.“ Seit April fahren sie donnerstags zur Probe.

Ein großer Raum im Parterre der Neuköllner Musikschule. Stühle im Halbkreis, rund 30 Leute. Alle über 60. In dem Alter, da das Atemvermögen nachlässt. Da der Körper weniger schwingt und der Ton, der über die Stimmlippen kommt, die hohen Frequenzen verliert. Viele haben im Leben kaum gesungen. Sie waren damit beschäftigt, sich anderweitig Gehör zu verschaffen. Sie haben Elvis Presley und die Beatles, die Stones, die Puhdys und Joe Cocker noch im Ohr. Haben Lebenserfahrung. „Endlich mal nicht mit Jüngeren zusammen sein“, sagen sie. „Mal nicht mithalten müssen. Mal nicht nur geduldet werden.“ Ihr Chor wird keine perfekte Sache sein. Das ist ja das Schöne, deshalb sind sie hier. Bevor sie beginnen, schließen sie die Fenster. Die Nachbarn nennen es Lärm, was gleich nach draußen dringt.

Sie suchen nach Tönen, finden einen, halten ihn. Finden mehr, klingen

Sie bringen ihre Körper in Bewegung. „Uuuhhhh!“, rufen sie. „Aaahhh!“ Bücken und strecken sich, so weit es noch geht. Zählen Schritte mit „dabidubidapp“ und „yeahyeahyeah“. Zum Singen setzen sie sich. „Vielleicht klingt es schrecklich, wenn ick nur den Mund aufmache“, sagt Jokel. „Aber ick hab vor nix Angst.“ Englisch spricht er nicht. Zwar war er öfter in Amerika. Doch hat er dort nur gelernt, zu grüßen und Essen zu bestellen. Er kommt mit den Songtexten nicht klar. „Dit Wort hat zehn Buchstaben, aber die sprechen nur sieben.“

Jokel und sein Kumpel Gert Beuster wuchsen in Baumschulenweg auf. Das lag um die Ecke von Neukölln. Noch bevor sie die Schule beendeten, lag es in Ostberlin hinter der Mauer. Die Mütter gaben die Söhne beim Friseur ab, einmal Fassonschnitt, achtzig Pfennig, dann waren die Nacken der beiden Jungen hoch ausrasiert. Sie verkabelten das Tonband mit den Westsendern des Röhrenradios und schnitten die Musik mit. Notierten die Texte, einfach, was sie hörten. Sangen zur Gitarre. Einmal lauschte ein Engländer, meinte, sie sängen Deutsch. Den Rhythmus der Zeit aufzunehmen, mitzusingen, nachzusingen, das machte lebendig. Lebendig war auch, wenn sich dazu ein paar Haare an den Ohren kräuselten.

Beuster gründete eine Band und spielte zu Tanzabenden auf. Drei Titel, Pause, drei Titel, Pause, fünf Stunden lang, fünf Tage die Woche. Doch bald nach der Schule gab er die Band auf. Arbeitete in der EDV mit kurzem Haar und weißem Kittel. Das Leben war nun ein ordentlicher Beruf. Erst seit er Rentner ist, musiziert er wieder mit den Kumpels aus Baumschulenweg. Er trägt Levi’s, Stiefel, John-Lennon-Brille. Ein schwarzes Sweatshirt spannt überm Bauch. Beusters blonde Haare sind dünn und lang. Er sieht aus wie Dieter Birr von den Puhdys. Wie einer, der nicht aufgegeben hat.

Bernhard Jokel sang nie. Er war Roadie, half auf- und abbauen. Mädchen, die er umwarb, fragten: „Biste Beatles oder Stones?“ Er war Beatles. Mancher passte das nicht und er musste mit einer anderen tanzen. Er ließ die Haare wachsen, legte sich einen Schnauzer zu. Er spielte Fußball, wurde Kraftfahrer, stellte einen Ausreiseantrag, rackerte im Ruhrgebiet in der Stahlindustrie. Die Musik hob er sich für später auf. Als bestünde das Leben darin, die Zeit zwischen Jugend und Alter zu überbrücken. Er lernt Gitarrespielen. Trägt Jeans und Lederjacke, kämmt das graue, lockige Langhaar nach hinten. Der „Rock- und Popchor 60+“ kam wie gerufen.

Auf dem Weg zur ersten Probe standen Beuster und er im Stau. Kamen zu spät. Traten durch die Tür wie zum Auftritt: zwei wiederauferstandene Rocker. „Mir is gleich uffjefalln, det wir anders aussehn als die andern im Raum“, sagt Jokel. „Aber wie dit Leben so spielt, vielleicht warn die früher och so wie wir.“

Wie das Leben so spielt, ist dem Chor nicht nur anzusehen. Es ist auch zu hören. Er fabriziert ein Klanggemisch aus laut, leise, schnell und langsam, aus Höhen und Tiefen. Töne werden aufgenommen, gehalten – wieder fallen gelassen. „Ich höre drei Stimmen“, sagt Michael Betzner-Brandt. Er ist der Chorleiter, den sie sich gesucht haben. Ein großer Mann mit hochstehenden Krausenlocken, keine 40 Jahre alt. Ein junger Hund, der ans Klavier springt, die drei Stimmen übernimmt, sodass sie den Raum ausfüllen. „Ja!“, ruft er. „Bleibt, wie ihr seid!“

Betzner-Brandt ist Musikpädagoge. Er unterrichtet an der Berliner Universität der Künste. Als Dirigent perfekt klingender Chöre fährt er zu Wettbewerben und gewinnt. Jedem Menschen seine Stimme zu lassen, ist aber auch eine Kunst. Eine Herausforderung. „Ihr seid ein Chor aus Charakter und Profil“, sagt er. Wie besessen tritt er den Takt in den Boden. Die 60+ zögern. Sie suchen nach Tönen. Sie finden einen. Halten ihn. Finden einen weiteren. Dann geben sie Eigenes – mehr und mehr, jeder für sich – und klingen! „Wer seid ihr? Was habt ihr zu sagen?“, ruft der Chorleiter. „Ich will das hören!“

Nach wenigen Wochen Probe besorgt Betzner-Brandt plötzlich eine Bühne. „Wollt ihr bei der ‚Fête de la Musique’ singen?“ Sein Chor schweigt. Ist es eine gute Idee, ihn dem Urteil des Publikums auszusetzen? Jemand sagt: „Ich dachte, wir probieren hier in Ruhe, anstatt uns draußen zu blamieren.“ Bernhard Jokel beugt sich zum Kumpel. „Ick mach mit, aber wenn die uns auspfeifen, komm ick nie wieder.“ Betzner-Brandt zählt Songs auf: „Ain’t No Sunshine“, „Hit The Road Jack“, „Stand By Me“. Stühle knarren, Füße scharren. „Wir können das alles noch nicht“, sagt Ute Knabe.

Und nun können sie es doch, heute Nachmittag um kurz vor vier. Mitten in Neukölln werden sie auf der Bühne stehen, Ecke Reuterstraße/Erlanger Straße – Ute Knabe unter ihnen. Auch sie weiß aus der Zeitung vom Chor. Sie war schon in einigen Singgruppen. Erst als Sopranistin, dann sang sie Mezzosopran, dann Alt. Nachdem sie angefangen hatte zu rauchen, sprang sie sogar für einen Tenor ein. Nicht nur ihre Stimme wurde dunkler, auch ihr Leben.

Sie wuchs bei der Großmutter in Görlitz auf, war im Kinderchor. Ende der 50er Jahre schickte man sie fort aus der sowjetischen Besatzungszone zur Mutter nach Westberlin. Sie war 14, floh zweimal, kam nicht bis Görlitz, nur bis zur Zonengrenze. Sie arbeitete Akkord bei Siemens, heiratete, brachte drei Söhne zur Welt. Dann häuften sich über Jahrzehnte in der Familie schlechte Ereignisse. Scheidung, Schlaganfall, Motorradunfall, Magenkrebs, Rheuma, Lungenkrebs, und immer wieder: der Tod.

Ihr zweiter Ehemann, mit dem sie den vierten Sohn bekam, war der Lichtblick. Auf einem Sonntagsausflug Mitte der 80er Jahre lotste er sie zur Philharmonie. Hatte sie heimlich zum Vorsingen angemeldet. Der „Studiochor Berlin“ nahm Ute Knabe sofort. Sie gab Konzerte mit Herbert von Karajan, fuhr auf Tourneen. Mitte der 90er starb ihr Mann. Die 50-jährige Witwe reiste ins warme, trockene Spanien aus, wo sie wenigstens nicht mehr unterm Rheuma litt. Sie sang in einem Chor mit Schweden, Engländern, Spaniern, Deutschen und Mexikanern. Mit 61 erlitt sie in der Nacht einen Herzinfarkt. Sie brauchte die deutschen Ärzte. Versuchte ein Leben in Köln, wurde außer in einem kleinen Gospelchor nicht heimisch.

Ihre Simme ist tief - die Zigaretten! Im Chor singt sie mit den Männern

Singen war immer: aus jeder Lebenslage das Beste machen. Seit sie zwischen Möbeln und Bildern aus Spanien in der nasskalten Berliner Gropiusstadt auf sonniges Wetter wartet, gelingt ihr das nicht mehr. Die rheumatischen Gelenke sind geschwollen. Die Lunge ist auch schwer krank. Einst entstand in Görlitz eine Rundfunkaufnahme mit ihrer Solostimme. „Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer ...“, singt Ute Knabe, den müden, rundlichen Köper im Wohnzimmersessel hin und her drehend, die Zigarette zwischen den Fingern. „Ich müsste aufhören zu rauchen“, sagt sie.

Mittlerweile ist ihre Stimme so tief, dass sie sich im Neuköllner Chor zu den Männern setzt. Bei einem Song bietet sie an, lautstark wie Joe Cocker zu kreischen. Eine Woche später sagt sie: „Zum Kreischen müsst ihr euch ’ne andere suchen, ich geh ins Krankenhaus.“ Wieder zwei Wochen später bangt sie der Lungendiagnose entgegen, geht trotzdem zur Probe. In der Männerreihe freuen sich Jokel und Beuster. Den Chorleiter trifft Ute Knabe bereits auf der Straße. „Und? Alles gut gegangen?“ Sie glaubt es kaum: „Der weiß das noch. Der erinnert sich an mich.“

Ruth Scheffel schließt ihr weißes Fahrrad an, krempelt die Jeans runter, raucht vor der Probe noch eine Zigarette. Ihr dunkles Haar ist zum Pagenkopf geschnitten, sie sieht aus wie ein großes Mädchen. Helle Bluse, Armreifen, Halskette, die hellbraunen Augen mit dunklem Kajal umrandet. Sie ist gerade 60 geworden. Als Kind sang sie in der Kirche, dann nie wieder. Doch hat sie im Laufe ihres Lebens ihre Stimme gefunden. Sie benutzt sie, um sich zu verteidigen. Um zu äußern, was sie denkt, was sie will. „Nur zu“, hat sie gesagt, als Betzner-Brandt ihnen den Bühnenauftritt anbot, „immer ran an die Buletten.“ Die Selbstgedrehten bewahrt sie in einer Blechschachtel auf, sie fallen auseinander oder sehen aus wie zertreten, doch fertige Zigaretten sind zu teuer.

Ruth Scheffel wollte technische Laborantin werden. Kaum war sie aus der Schule, starb der Vater. Für die Ausbildung war kein Geld mehr da. Sie absolvierte eine Banklehre. Nur durften Mädchen in den 60ern in der Bank keinen Berufsabschluss machen. Sie war eine billige Arbeitskraft. Ging in den Ost-West-Handel. Nach dem Mauerfall war damit Schluss. Seit den 90ern ist die Karriere der Westdeutschen eine Art ostdeutsche: schon mit 40 schwer vermittelbar, unzählige Ablehnungen, Umschulungen, erfolglose Maßnahmen, sinnlose Beschäftigung. Sie lebt von Hartz IV. Auf ihrem Balkon im Neuköllner Schillerkiez nisten Schwalben. Nebenan auf dem stillgelegten Tempelhofer Flugfeld streunen schöne Füchse. Sie malt Aquarelle. „Mich haben sie noch nicht kleingekriegt.“ So geht der Refrain ihres Lebens.

Als Betzner-Brandt bei der Chorprobe Solisten sucht, geht Ruth Scheffel auf die Bühne. Das hätte sie sich früher nie getraut. Jetzt sagt sie: „Man muss ja üben.“ Ihre Stimme zittert. „Das vergeht!“, ruft Betzner-Brandt. „Du bist leise, das macht nichts, das regeln wir mit dem Mikrofon!“ Ute Knabe lacht sie von unten herzlich an. „Do you need anybody?“, fragt singend der Chor. „I need somebody to love“, antworten Gerhard, Judith, Christa, Annette. Gert Beuster traut sich „Stand By Me“. Er behält eine Hand in der Hosentasche. Steht schief, ein Knie eingeknickt. Der Junge aus Baumschulenweg. Ute Knabes strahlende Augen. Und alle klatschen.

Stimmen aus der Gruft. Fossilien. Neuköllner Altstars. Die kontinentalen Reifen. Rock now or never. Das sind Namen, die die 60+ für ihren Chor erdacht haben. „Singt mal, als wärt ihr noch zehn Jahre älter!“, ruft Michael Betzner-Brandt. Sie sinken tief in sich hinein. „Gefühlte zehn Jahre jünger!“ Sie richten ihre Körper auf. „Zwanzig Jahre jünger!“ Sie verwandeln sich. Sind jetzt wieder so alt wie der zappelige, junge Hund am Klavier. „Yeah!“, ruft der. „Wahnsinn, damals!"

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