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Sozialistische Arbeiterpoesie. Gruppenhochzeit auf der Baustelle des neuen Flughafens von Beijing.

© AFP

Chinesische Literatur: Meine triumphale Achtung fürs Leben

Zeitgenössische Lyrik und andere Neuerscheinungen aus der Volksrepublik. Texte, die auf einem störrischen Individualismus beharren - fernab von Klischees.

Von Gregor Dotzauer

Was aus der Volksrepublik China an zeitgenössischer Kunst in den Westen gelangt, ist angesichts der sonstigen Handelsströme ein Trauerspiel. Überhaupt dürften sich die Chinesen mehr für Deutschland und das zerfallende Europa interessieren als umgekehrt. Am prominentesten ist noch die Malerei, die bis vor wenigen Jahren bei Auktionen mit Politpop und zynischem Realismus boomte. Der Film hat in Gestalt des Neorealisten Jia Zhang-ke („Still Life“) immerhin einen sensiblen Chronisten des Modernisierungsschubs auf die Landkarte des Weltkinos gebracht. Spottbegabte Beobachter des Turbokapitalismus wie die Romanciers Yu Hua („Brüder“) oder Yan Lianke („Der Traum meines Großvaters“), vom Regime auf Abstand gehalten, sind dagegen ein Fall für Spezialisten geblieben. Wie soll es da erst um die Poesie stehen?

Auch wenn sie am wenigsten zur volks- und landeskundlichen Auskunft taugt, ist sie seit den Tagen von Li Bai und Du Fu, den Sängern der Tang-Dynastie im achten Jahrhundert, die wahre Domäne der chinesischen Literatur. Da, wo sie mit allen Abstürzen in den Kitsch als Volkssport betrieben wird, und da, wo ihr poetologisch bewanderte Kreise eine sehr viel zeitgenössischere Gestalt geben als der oft biederen Prosa. Tatsächlich vermag sie gesellschaftliche Konflikte mit Zwischentönen auszutragen, die sich an offiziellen Sprechweisen vorbeimogeln. Sie gibt Gefühlen zwischen Unmut, Melancholie und Aufsässigkeit auf wenigen Zeilen eine Form und stiftet im Handumdrehen Zusammenhänge zwischen den entferntesten Welten.

"Chinabox" präsentiert zeitgenössische Lyrik aus China

Wie raffiniert und alltäglich das möglich ist, zeigt die von der jungen Berliner Dichterin und Sinologin Lea Schneider herausgegebene Anthologie „Chinabox“. Von vorne aufgeblättert, enthält der von Wu Yimeng reich illustrierte Band die Gedichte von zwölf Autoren und Autorinnen der Jahrgänge 1956 bis 1980 in deutscher Sprache. Herumgedreht und auf den Kopf gestellt, präsentiert er die Originale. Dazu kommen eine prägnante Einleitung in Sprache und Literaturlandschaft Chinas sowie kurze Porträts aller Dichter und Anmerkungen zu Fachbegriffen, Ortsnamen und Zitaten.

Die Texte sind an sich so zugänglich, dass man darüber die Andersartigkeit der sozialen Codes fast vergisst. Denn was gibt es hier nicht alles: die Performance Poetry des gerade als DAAD-Stipendiat in Berlin lebenden DJs und Noise Artists Yan Jun; die Internationalität des an der Peking University lehrenden Zang Di, der auf Paul Celan, Jehuda Amichai, Tomas Tranströmer und Ted Hughes Bezug nimmt, während andere eher die Beat Poets gelesen haben; die von ironisch-feministischen Energien gespeisten Gedichte von Zhou Zan und Lü Yue, die in einem Nachruf auf ihre Kunst zugleich deren Lebendigkeit betont: „das gedicht ist tot, aber davon weiß es nichts / ein staatsbegräbnis wird abgehalten, auf einem 100-loch-golfplatz / werden blüten auf seine lider gestreut (…) bei der beerdigung bemerkt ein kind, wie das gedicht unter den lidern die augen bewegt / es hat allerdings seine hornhaut gespendet, es kann den eigenen tod nicht sehen.“

International besser vernetzt als je zuvor

Die Widerständigkeit der Texte ist zumeist subkutaner Natur, und wenn unter ihnen beileibe nicht nur Glanzstücke sind, stehen sie doch für ein Schreiben, das nicht die im Westen vorherrschenden Klischees vom blutrünstigen Staats-Leviathan und dem dissidentischen Drachentöter bedient, sondern auf einem störrischen Individualismus beharrt, den sich jeder auf eigene Weise erkämpft.

Zeitlich angefangen mit den munter vor sich hin assoziierenden Theoriegedichten des Gegenwartsurgesteins Sun Wenbo, der zusammen mit Xiao Kaiyu die einflussreiche Zeitschrift „The Nineties“ gründete, stehen sie insgesamt für eine Abkehr von der hermetischen (und posthermetischen) „Nebeldichtung“, wie sie der im US-Exil berühmt gewordene und heute wieder in China lebende Bei Dao praktizierte. Ein aus den Mord- und Verratsabgründen der Kulturrevolution hervorgegangenes Schreiben, das sich offiziellen Direktiven durch kryptische Bilder entziehen wollte.

Die „Chinabox“ ist nicht die einzige Anthologie ihrer Art. Vor sieben Jahren erschien im Weidle Verlag, herausgegeben von Wolfgang Kubin, „Alles versteht sich auf Verrat“ und bei Fly Fast, zusammengestellt von Xi Chuan, die Doppel-CD „Schmetterlinge auf der Windschutzscheibe“. Die 1989 geborene Lea Schneider, die zusammen mit der Taiwanerin Chang Peiyao das Gros der „Chinabox“- Gedichte übersetzt hat, kann keine repräsentativere Auswahl als ihre Vorgänger beanspruchen: Eine solche ist angesichts der Fülle heterogener, alle Schulen hinter lassender Stimmen unmöglich. Aber sie steht für eine Generation, die international besser vernetzt ist als jede zuvor. Auch der 1966 geborene Yi Sha, dessen Gedichte Martin Winter in einem eigenen Band übersetzt hat, hätte in der „Chinabox“ gute Figur gemacht. Und in der nun zum zweiten Mal erschienenen, deutschsprachigen Pekinger Zeitschrift „Leuchtspur“ mit Prosa und Lyrik lohnt das Weiterlesen nicht minder. Ein schlechter Witz ist nur, dass die Ausgabe zwar mit chinesischen Steuergeldern aufwendig hergestellt wird, aber keinen offiziellen deutschen Vertrieb hat.

Lyrik die erzwungenem Nomadentum bitteres Leben verleiht

In Gestalt der 1980 in der Provinz Sichuan geborenen Zheng Xiaoqiong stellt die „Chinabox“ überdies die wohl bekannteste Repräsentantin der Wanderarbeiterdichtung vor. Etwa ein Viertel der knapp 1,4 Milliarden Chinesen lebt und arbeitet fern der Heimatprovinz – und oftmals fern der eigenen Familie. Aus dieser Erfahrung ist keine sozialistisch-realistische Literatur der Arbeitswelt entstanden, sondern eine Lyrik, die diesem erzwungenen Nomadentum bitteres Leben verleiht. „jedes bedeutungslose leben hat endlose bedeutung / gegenüber der graubraunen niederlage des tods“, schreibt Zheng in einem der Fabrikarbeiterin Xu Rong gewidmeten Gedicht. „bleibt / meine triumphale achtung fürs leben / sie / lässt mich seine ganze unfassbarkeit sehen / ich lese die schicksale dieser arbeiterinnen / lese meinen von der industrie aufgebohrten körper, geister / wir verlieren uns vor unserer zeit / lösen uns auf in der welt / übrig bleiben krankheiten / gebrochene finger / erinnerungen ans zeitalter überlebter wunden.“

Lea Schneider (Hg.): Chinabox. Neue Lyrik aus der Volksrepublik. Illustrationen von Yimeng Wu. Verlagshaus Berlin, Berlin 2016. 350 Seiten, 24,90 €.

Yi Sha: Überquerung des Gelben Flusses. Band 1: Gedichte 1988–2009. Aus dem Chinesischen von Martin Winter. Zweisprachige Ausgabe. fabrik.transit, Wien 2016. 354 Seiten, 15 €. Zu bestellen über die Website www.fabriktransit.net

Leuchtspur 2016. Imagination. Neue chinesische Literatur. Foreign Languages Press, Peking 2016. 178 Seiten, 15 €. ISBN 978-7-119-10182-8. Bestellungen c/o Martin Winter, mading2002@hotmail.com

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