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Im Reich der fließenden Übergänge. Szene aus Tang Xianzus „Traum von Handan“ mit Zhang Weiwei (links) und Chen Li.

© Shanghai Kunqu Opera

Chinesische Kunqu-Oper in Berlin: Die unvergleichliche Eleganz des Kunqu

Die chinesische Kunqu-Oper ist ein hypnotisches Gesamtkunstwerk. Nun kommt die Shanghai Kunqu Opera Company nach Berlin. Eine Hommage.

Von Gregor Dotzauer

Reine Schönheit gibt es höchstens in der Kunst, und selbst da bleibt sie ein Ideal. Wenn ihr jedoch auf Erden etwas nahekommt, ist es das chinesische Kunqu. Einmal im Leben muss man gesehen haben, wie bei den Darstellern eine Geste an den linken Fingerspitzen ansetzt und den Körper widerstandslos bis in die rechten Fingerspitzen durchwandert. Und einmal muss man sich die Ohren mit seinen weichen, „vom Wasser polierten Weisen“ ausspülen lassen, wie die Gesänge traditionell heißen.

Das Kunqu ist aber nicht einfach eine Oper. Als Gesamtkunstwerk aus Schauspiel, Poesie, Gesang, Pantomime und Musik umfasst es zwar alle Elemente dessen, was man auch im Westen damit bezeichnet. Doch es ist elitärer und volkstümlicher zugleich: unendlich raffiniert in den Bewegungscodes und Rezitationsregeln, die nur in Gelehrtenkreisen überleben konnten – und mit seinen Geschichten von Liebe, Tod und Erlösung von hypnotischer Wirkung auf alle Schichten.

Tor zu einer anderen Welt

Das Kunqu – ausgesprochen „Kuntschü“ – ist offenbar auch keine beliebig ersetzbare Sprache. Sonst hätte es mit der schwindenden Zahl seiner Sprecher längst jener Exitus ereilt, der rund 3000 der 7000 derzeit lebenden Sprachen bis zum Ende des Jahrhunderts noch bevorsteht. Ohne religiöse Sehnsüchte zu befriedigen, stößt Kunqu mitten in dieser Welt das Tor zu einer anderen Welt auf und befriedigt das Bedürfnis nach einer Traumlogik, innerhalb derer die Grenzen von Wunsch und Wirklichkeit immer wieder neu verhandelt werden. Insofern geht Kunqu über das Eskapistische hinaus.

Die „Melodien aus Kunshan“, wie man ihre im Osten Chinas rund um Suzhou entstandene Bezeichnung übersetzt, blicken als eigenständige Gattung auf eine über 500-jährige Vergangenheit zurück, in ihrer nord- und südchinesischen Herkunft sogar noch auf einige Jahrhunderte mehr.

Die verbotenen Melodien überlebten auf dem Land

Als sich der chinesisch-amerikanische Schriftsteller und Literaturprofessor Kenneth Pai 1946 mit neun Jahren in Schanghai zum ersten Mal von Tang Xianzus berühmtem „Pfingstrosen-Pavillon“ (Mudan Ting) verzaubern ließ, hatte er das Glück, einen der letzten Höhepunkte des Kunqu zu erleben, bevor es auszuglühen begann und die Kulturrevolution seine imperialistischen Aschen in alle Winde verstreuen wollte. Auf der Bühne stand als Hauptdarsteller der heute noch wie ein Heiliger verehrte Mei Langfang, dem in Schanghai auch ein begeisterter Charlie Chaplin begegnete und in Moskau ein gebannter Bertolt Brecht. „Ich wusste nicht, was es war“, erinnert sich Pai an sein Kinderstaunen. „Ich verstand es nicht. Aber es ging mir nach.“

Es ging ihm so sehr nach, dass er heute zu den wichtigsten Anwälten des Kunqu und seiner typisierten Rollen gehört. 1987 kehrte Pai zu einer Aufführung an den Huangpu zurück und war von Neuem überwältigt. Die bis 1976 streng verbotenen Melodien hatten überlebt, indem die aufs Land verschickten Städter sie heimlich bei der Feldarbeit summten. Insbesondere eine Welttournee des „Pfingstrosen-Pavillons“ mit jugendlichen Schauspielern des Suzhou Kunqu Opera Theater im Jahr 2003 sorgte für eine Popularisierung der seit 2001 auf der Liste des immateriellen Unesco-Weltkulturerbes stehenden Gattung.

Die Bühne bleibt so gut wie leer

Da hatte man sich längst auch anderswo auf das Erbe besonnen. Chen Shizheng und die Shanghai Kunqu Opera Company hatten sich 1998 vom New Yorker Lincoln Center beauftragen lassen, eine mit allen 55 Szenen und 200 Arien auf 30 Stunden angelegte Fassung des „Pfingstrosen-Pavillons“ zu erarbeiten. Wegen eines Ausreiseverbots kam es nicht dazu. Dafür gab es im Jahr darauf eine um ein Drittel gekürzte Version mit ortsansässigen Darstellern, echten Enten im Bühnenteich und Reminiszenzen an die zwei Jahrhunderte jüngere, musikalisch wie szenisch von einem militärisch-akrobatischen Geist beseelte Pekingoper. Diese Fassung erreichte damals auch das deutsche Fernsehen. Mit Kunqu hatte das nur in Ansätzen zu tun.

Wenn die Truppe aus Schanghai nun mit 30 weiblichen und männlichen Darstellern, 25 Musikern sowie einem Opern-Quartett nach Dramen von Tang Xianzu ins Haus der Berliner Festspiele kommt, beträgt die Spielzeit jedes einzelnen der „Vier Träume aus Linchuan“ inklusive Pause nur noch zweieinhalb Stunden. Dafür stimmt der spartanische, hochgradig stilisierte Geist des Kunqu. Die Bühne bleibt so gut wie leer. Ein Tisch kann für ein Zimmer oder eine ganze Bergkette stehen. Und auch das Spiel richtet sich auf die Essenz rhythmisch synchronisierter Klänge und Gebärden. Jedes symbolisch streng kodifizierte Handzeichen wird perkussiv begleitet.

Eine Wissenschaft für sich

Wo der Laie die vier Tonhöhen des Mandarinchinesischen im Alltag vielleicht erst bemerkt, wenn er selbst die Nuancen verfehlt, wird er hier mit einer Übertreibung konfrontiert, die auch die stark akzentuierte normale Bühnensprache hinter sich lässt. Die Amplituden des gesprochenen und gesungenen Texts schlagen bis in die höchsten, gerade bei Männern effeminiert wirkenden Falsettregionen aus. Mit sirenenartigen Auf- und Abschwüngen wird er zelebriert. Doch das Exaltierte wird von einer musikalischen Zartheit umspielt, die den Gegensatz von Künstlichem und Natürlichem aufhebt. Im Wellenschlag der akustischen und gestischen Ereignisse beginnt etwas zu fließen, das die unvergleichliche Eleganz des Kunqu ausmacht.

Das Orchester besteht aus den klassischen chinesischen Instrumenten: der stets präsenten Bambusflöte Dizi, der zweisaitigen Kniegeige Erhu, der Mundorgel Sheng, den Lauten Pipa und Sanxian, der Wölbbrettzither Zheng und einem Arsenal von Trommeln und Becken, aus dem immer wieder das kurze Bellen kleiner Gongs emporsteigt.

Einerseits ist das alles eine Wissenschaft für sich, die praktisch nicht ohne Meister-Schüler-Verhältnisse auskommt und theoretisch nicht ohne sorgfältige Dokumentation. Seit sich China entschlossen hat, das „Vorbild der hundert Opern“ mit öffentlichen Mitteln am Leben zu erhalten, sind zahlreiche Standardwerke erschienen. Die gründlichste deutsche „Einführung in das Kunqu“ stammt von dem erst im Oktober verstorbenen Musikwissenschaftler Rudolf M. Brandl. Wobei der Münchner Theaterwissenschaftler Michael Gissenwehrer, der nun zum Begleitsymposium nach Berlin kommt, sofort einwenden würde, dass man die Sache nicht zu sehr vom Notenpult aus betrachten sollte.

Mit offenen Sinnen

Andererseits ist die auch in China schwelende Frage, ob es sich eher um ein szenisches oder ein musikalisches Wunder handelt, für den Zuschauer relativ unerheblich. Mithilfe von Untertiteln wird er Text und Handlung grob folgen, aber sogar als Muttersprachler vom historischen Sprachstand vielfach überfordert sein. Am weitesten kommt, wer sich auf den „Traum von Handan“, „Die purpurne Haarspange“, den „Traum unter dem Südzweig“ und den „Pfingstrosen-Pavillon“ mit offenen Sinnen einlässt. Über das Stück aller Stücke genügt es zu wissen, dass es von einer schönen jungen Frau erzählt, die vor Enttäuschung stirbt, nachdem sie den Geliebten eines erotischen Traums im Wachzustand nicht wiederfindet, aus dem Totenreich allerdings als Geist auf die Erde zurückkehrt und sich auf die Suche nach ihm begibt.

Ausführlich lässt sich das im Originaldrama von Tang Xianzu nachlesen. China versucht seit einigen Jahren, ihn als seinen Shakespeare zu verkaufen, zumal Tang mit dem Verfasser von „Romeo und Julia“ das Todesjahr 1616 teilt. Aber der Vergleich stellt eine Verbindung her, wo das Trennende überwiegt. Man tut der fremdartigen Herrlichkeit des Kunqu den größten Gefallen, es mit solchen Vergleichen gar nicht erst zu versuchen.

Aufführungen am 1./2.12, jeweils um 14 Uhr und 19.30 Uhr, Details unter www.berlinerfestspiele.de

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