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Reiche Ernte. Szene aus Jia Zhangkes Dokumentarfilm.

© Xstream Pictures

Chinas Schriftsteller: Das Wissen der Eingeweide

„Swimming Out Till The Sea Turns Blue“: Jia Zhangke beschließt die Trilogie seiner Künstlerfilme.

Von Gregor Dotzauer

Am Ende, kurz bevor sich das Erinnerungsgeflecht zu einem Ganzen fügt, entsteht plötzlich ein Riss. Der jüngste Zeuge in dieser vielstimmigen, Momente aus 70 Jahren chinesischer Alltagsgeschichte einsammelnden Dokumentation, ein pickliger 14-Jähriger, der mit seiner Mutter, der Schriftstellerin Liang Hong aus der Provinz Henan nach Peking gezogen ist, soll einige Sätze in seinem heimatlichen Dialekt sagen.

Was die unschuldigste Bitte der Welt sein könnte, bringt ihn völlig aus der Fassung. Tonlos ringt er mit geöffnetem Mund um Worte und versucht, etwas Sinnvolles zu formulieren, bis ihn die Mutter soufflierend erlöst. Und man begreift, gegen welche Arten des Vergessens Jia Zhangke, der bedeutendste lebende Filmchronist seines Landes, hier seine Beobachtungskunst aufbietet.

Nicht gegen die Legion der offensichtlichen Tabus, die China regieren, sondern gegen die Myriaden der Erfahrungen, die sich unter ihnen verstecken. Erfahrungen, die in der Hand und in den Eingeweiden sitzen: ein Archiv der Nebensachen, die im Leben jedes Einzelnen die Hauptsache sind.

„Swimming Out Till The Sea Turns Blue“, der abschließende Teil einer Trilogie von Künstlerfilmen, die 2006 mit einem Porträt des Malers Liu Xiaodong begann, lebt von einer doppelten Brechung. Denn die Protagonisten sind allesamt Schriftsteller, die ihrerseits im Abstand von mehr oder weniger einer Generation Chinas Wandlungen festgehalten haben.

Hommage an eine bäuerliche Welt

Ma Feng, der nur noch als Denkmal lebendige Pate einer bäuerlich geprägten Literatur, die vom Dorfleben in Jia Zhangkes Heimatprovinz Shanxi erzählt. Jia Pingwa, Mas großer Erbe. Der hierzulande als einziger weiträumig übersetzte Yu Hua, der neben den Romanen „Leben!“ und „Brüder“ auch die wunderbaren Essays „China in zehn Wörtern“ geschrieben hat.

Ihm verdankt sich auch der Filmtitel: Er bezieht sich auf Yu Huas Kindertraum, in das als gelb empfundene Meer so weit hinauszuschwimmen, dass er es endlich als blau erleben werde. Schließlich Liang Hong mit ihrer Dokumentarprosa über die Umwälzungen auf dem Lande.

In 18 Kapiteln, die von poetischen Inserts, kurzen Rezitationen und einer reichen musikalischen Leitmotivik verklammert werden, geben sie Auskunft über ihr Leben, ihre Vorfahren und auch ihre Arbeit. Und wenn Jia Zhangke sich einmal selbst mit einer Szene aus seinem frühen Spielfilm „Platform“ zitiert, um den Abstand zwischen seiner Heimatstadt Fenyang damals und heute zu illustrieren, entgrenzt sich das Dokumentarische in dem Maß zum Fiktionalen, in dem seine Spielfilme nach dem Tatsächlichen schielen - zuletzt in dem Epos „Asche ist reines Weiß“.

Das Schönste ist allerdings die Zeit, die sich Jia Zhangke wieder einmal nimmt. Zeit, in der zwischen der Kulturrevolution und der Viererbande wie nebenbei die bekannten und weniger bekannten historischen Stichworte fallen. Zeit für Abschweifungen. Zeit vor allem aber für Gesichter, in deren Falten und Runzeln man in aller Ruhe lesen kann.

HdBf, Fr 21.2., 15 Uhr; Cubix 6, Di, 25.2., 12.30 Uhr

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