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Frank Castorf spricht über seine Inszenierung "Les Misérables" am Berliner Emsemble.

© dpa/Maurizio Gambarini

Castorf-Inszenierung am BE: Jetzt eben wieder Wanderjahre

Frank Castorf spricht in Berlin über sich und seine BE-Premiere. Es ist seine erste Inszenierung in der Hauptstadt seit seinem Weggang von der Volksbühne.

Anfangs sorgt man sich noch, dass es eins dieser Gespräche wird, in denen der Regisseur im gedimmten Schlechte-Laune Sound nur einsilbig antwortet. Frank Castorf sitzt im Großen Saal des Berliner Ensembles, mit Wasserglas und Mikro, er soll erzählen, was ihn an Victor Hugos voluminösem Romantik-Roman „Les Misérables“ denn derart reizte, dass er ihn jetzt hier zur Premiere bringt. Hm, naja, war ein Vorschlag von Intendant Oliver Reese, „müssen Se den fragen“, brummelt Castorf. Er sei Auftragsregisseur. Aufträge erledige er übrigens relativ zuverlässig, falls das noch niemandem aufgefallen sei.

Dann allerdings schraubt sich der Ex- Volksbühnen-Chef – der am 1. Dezember seine erste Berliner Arbeit seit dem Aus am Rosa-Luxemburg-Platz zeigt – doch in einen seiner typischen, etwa 20-minütigen Monologe, in denen die historischen Bezüge querschießen und der Verweis auf Heiner Müllers „Auftrag“ garantiert nicht fehlt. Das letzte Stück, das Castorf am Schiffbauerdamm inszenierte, vor über 20 Jahren.

Hugos Roman jedenfalls wird in diesem Bewusstseinsstrom mit elektrischen Gedanken für seine Abbildung brutaler sozialer Verhältnisse gelobt – eine verarmte Alleinerziehende lässt sich für Geld die Haare scheren und die Zähne rausreißen. Klar, so was kommt in der Hollywoodverfilmung nicht vor. Und auch klar, solche Zustände kapieren wir Mitte-Menschen mit unseren teuren Sneakers nicht. Vielleicht sollten wir, so Castorf später, mal „nach Marzahn fahren und uns in die Fresse hauen lassen“.

Gemeinsam mit Hugo hat der Regisseur den Eindruck, „dass sich mit dem Elend gutes Geld verdienen lässt“. Weniger Reflexion des eigenen Theaterhandelns hätte auch überrascht. Niemand muss befürchten, dass Castorf in der Fremde, im Lieblingstheater seiner Jugend, zum Sozialkitschverkäufer oder sich sonstwie untreu wird. Also dauert "Les Misérables" voraussichtlich sechseinhalb Stunden, sind schließlich 1700 Seiten, und wird im Bühnenbild von Aleksandar Denic im revolutionären Kuba spielen. Unter anderem, weil Hugo - ein politisch höchst wankelmütiger Mensch - sich in Briefen für die polnischen Aufstände und die mexikanischen Guerilleros entflammen konnte. Wie schrieb Heiner Müller: "Die Heimat der Sklaven ist der Aufstand". Was gibt es sonst noch über Hugo zu wissen? Nun, zum Beispiel, dass er eine Liste führte, welchen Frauen er an die Brüste fassen, mit welchen er den Verkehr vollziehen durfte. Solche Verweise machen Castorf in #MeToo-Zeiten Spaß. Mit seinem Image als Sexist hat er immer gern kokettiert. Wobei die Ironie oft nicht verstanden wurde.

Apropos, wie geht’s dem Regisseur denn nun im freischaffenden Leben? Och, naja, jetzt eben wieder Wanderjahre, „Aus dem Leben eines Taugenichts“, Heimat an den Schuhsohlen und sich woanders durchschnorren, wiegelt er ab. Ein paar Umdrehungen später bricht der Zorn allerdings doch noch mal durch. Auf die flügellahmen Kulturpolitiker, die mit 17 Prozent im Rücken fatale Entscheidungen treffen. Auf alle, die von ihm gefordert haben, Chris Dercon doch ein paar Inszenierungen zu hinterlassen. „Bigott!“, ruft Castorf. Was habe er denn vorgefunden, als er ’92 die Volksbühne übernahm? Nüscht. Neuanfang ist Neuanfang, basta.
„Sie merken“, grinst Castorf gegen Ende, „vor Ihnen sitzt ein verbitterter alter Mann“. Wie sagte seine katholische Großmutter? „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann. Kluge Frau.“ Man muss ihr zustimmen.

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