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Tagesspiegel-Autorin Caroline Fetscher

© Thilo Rückeis

Caroline Fetschers Sachbuchkolumne: Die Arbeit der Seele

Flugschriften: Das Werk des ungarischen Feuilletonisten und Résistance-Kämpfers Emil Szittya

Von Caroline Fetscher

An Emils Szittyas erstem Werk, „Ecce homo-Ulk“ von 1908, soll Walter Benjamin Freude gehabt haben. Lange wusste man nicht viel mehr darüber, das kleine Buch mit sechs expressionistischen Prosastücken war ein Jahrhundert lang verschollen. Erst 2017 hat der Szittya-Forscher Walter Fähnders ein Exemplar aufgetrieben, das er kommentiert herausgeben will, wie bereits andere Texte des hochgradig originellen Autors. (Walter Fähnders (Hg.) Emil Szittya: Herr Außerhalb illustriert die Welt. Mit Erstdrucken aus dem Nachlass. Basis Druck Verlag, Berlin, 280 S, 18 €). Doch hier geht es um noch eine andere Entdeckung.

Szittya wurde 1886 in Budapest geboren und starb im November 1964 in Paris. Als scharf beobachtender Zaungast, witziger Feuilletonist und vagabundierender Chronist war er überall unterwegs, wo seine Zeit Neues und Abenteuerliches bot, magnetisch angezogen von Berlins Künstler-Cafés und Bordellpublikum, vom Cabaret Voltaire in Zürich, von der politischen Pariser Szene wie der frühen Öko-Bohème der Vegetarier auf dem Monte Verità im Tessin. Seine berühmteste Textkollektion, „Das Kuriositäten-Kabinett“, erschien 1923 und hält, was der Untertitel verspricht: „Begegnungen mit seltsamen Begebenheiten, Landstreichern, Verbrechern, Artisten, religiös Wahnsinnigen, sexuellen Merkwürdigkeiten, Sozialdemokraten, Syndikalisten, Kommunisten, Anarchisten, Politikern und Künstlern“.

Als Antifaschist schloss sich Szittya 1940 der Résistance in Limoges an

Emil Szittya („Schüttja“ gesprochen) skizzierte rücksichtslos Zeitgenossen, teils karikaturistisch, teils amüsiert oder empört, immer aber neugierig. In einer Nachbemerkung schimpfte er: „Es ist eine Gemeinheit, dass es Kleinbürger noch immer verhindern können, dass die ,Tagebücher’ der Brüder Goncourt erscheinen. Die Goncourts sind keine Schnüffler, sondern Seher, die in die Gesichter schauen dürften.“

Als Antifaschist schloss sich Szittya 1940 der Résistance in Limoges an, wo er bis 1944 aktiv war und mit seiner Familie lebte. 1945 zog er zurück nach Paris. Während der Jahre in der Résistance unternahm Szittya etwas absolut Einmaliges: Mit seiner Frau Erika befragte er die Bevölkerung nach ihren Träumen – Partisanen, Bauern, Männer, Frauen, Kinder – und notierte die Träume wie der Psychoanalytiker einer Region, einer Ära. Die 82 Notate waren 1963 in Paris kaum beachtet erschienen, wurden jetzt wunderbar neu aufgelegt und rufen förmlich nach einem deutschen Verlag. (Emil Szittya: 82 rêves pendant la guerre, 1939-1945. Vorwort von Emmanuel Carrère. Verlag Allary Éditions, Paris, 2019, 220 S., 20, 90 €)

Von Deutungen hält der Text sich fern

Von Deutungen hält der Text sich fern, er portraitiert nur kurz die Erzählenden. Ohnehin sprechen die Träume und Fantasien gut für sich. Etwa wenn der siebenjährige Marc in einem Internat für Kinder von kämpfenden Eltern von den Eidechsen spricht, die bei der kleinsten Bewegung flüchten, ihm aber nicht sagen, warum. „Du glaubst wirklich, sie könnten dir antworten?“– „Ja, ja, aber sie wollen nicht.“ Angst hat der Junge vor dem Wind, der in seinen Träumen auftaucht. Darin bläst ein Soldat den Wind aus seiner Trompete, so stark, dass er den Vater des Jungen, einen Dachdecker, vom Haus herabweht. Der Soldat trägt den Vater fort, erzählt der Junge. „Er lacht und zertrampelt dabei die Eidechsen, die aus dem Haus fliehen.“

Umwerfend sind diese Vignetten, so leuchtend wie rätselhaft ziehen sie die Spur von Krieg und Terror nach – und die Anstrengungen der Seele, das Unsägliche in Symbole zu verwandeln.

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