zum Hauptinhalt
Die 1971 im Département Pas-de-Calais geborene französische Schriftstellerin Carole Fives.

© Francesca Mantovani/Gallimard/Zsolnay

Carole Fives Roman „Kleine Fluchten“: Prekärer Alltag mit Kind

Durchhalten ist alles: Die französische Schriftstellerin Carole Fives erzählt von den „Kleinen Fluchten“ einer jungen Mutter.

„Du bist nicht die Einzige mit einem Kleinkind“. Diesen Satz sagt der Art Director einer Werbeagentur zur jungen Mutter. Das weiß die junge Mutter natürlich.

Während sie das Telefonat mit ihrem Auftraggeber führt, für den sie Buchcover entwerfen soll, irgendetwas mit der Kunst der Sushi-Zubereitung, sitzt sie mit ihrem Sohn auf einem Spielplatz; umgeben von vielen anderen Kindern.

Der Satz ist eine Warnung: Wenn sie weiter arbeiten möchte, muss sie liefern. Vor allem aber ist er ein Stich mitten in ihr Herz. Man könnte ihn mit „Alle kriegen es hin, nur du nicht“ übersetzen. Während sie in ihr Handy spricht, stürzt der Zweijährige von einer Leiter. Er schreit.

Schon sind wir mittendrin in dem, was zu den „Kleinen Fluchten“ führt, auf die sich der Titel von Carole Fives’ viertem Roman bezieht: Die junge Mutter lebt in Lyon, der Kindesvater hat sie verlassen.

Sie war einmal eine gut gebuchte Grafikdesignerin, hat aber den Anschluss verloren. Der Zweijährige ist ihre einzige Bezugsperson, sie verbringt fast ihre gesamte Zeit mit ihm. Sie liebt ihn, natürlich liebt sie ihn.

Der Zweijährige fällt von der Leiter

Aber diese Liebe ist zugleich Segen, Gefangenschaft und auch eine große finanzielle Belastung, die letztendlich zu einem Leben am Rande des Prekariats führt. Um diesem Leben kurze Momente der Freude entgegenzusetzen, flüchtet sie. Nachts, wenn das Kind schläft, läuft sie die Straßen entlang, fährt mit der Bahn in andere Stadtviertel. Was soll schon passieren? Das Kind schläft ja. Man befürchtet, dass all das böse enden wird. Das tut es auch, aber ganz anders, als man vermuten würde.

Das Grausame steckt in diesem Buch ohnehin in jeder Zeile: Wenn die französische Autorin von den Leiden einer jungen, alleingelassenen Mutter erzählt, erledigt sie das brutal genau.

[Behalten Sie den Überblick über die Corona-Entwicklung in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]

Sie verfolgt über Seiten deren Diskussionsbeiträge in Mutter-Kind-Foren im Internet. Sie begleitet sie zu ihrer Bankberaterin, die fragt, ob ihr bewusst sei, dass sie kurz vor der Privatinsolvenz stehe. Sie erzählt vom Besuch des Gerichtsvollziehers, von ihren Versuchen, Kontakte zu knüpfen. Zu anderen Müttern, zu Männern, zum Vater ihres Kindes. Irgendwann ergattert sie für ihren Sohn einen Platz in der Kinderkrippe, aber die ist am anderen Ende der Stadt.

Vorfreude auf die Nacht

Es ist ein Kreislauf der Bedrückungen, der in knappen Sätzen und ohne jede Sentimentalität nachgezeichnet wird. Der Zusammenbruch der Mutter ist stets nah, aber selbst Demütigungen wie durch den Gerichtsvollzieher oder feindlich gesinnte Nachbarn drücken ihr nur kurz die Luft ab.

Sie überlebt, irgendwie: „Sie hielt den Tagesablauf durch, sie hielt für den Kleinen durch. Doch wenn sich die Nacht ankündigte, konnte sie es kaum erwarten, bis er einschlief, um endlich wieder alles zulassen zu können, ihre Ängste, ihren zurückgehaltenen Ärger.“

Carole Fives: Kleine Fluchten. Roman. Aus dem Französischen von Anne Braun. Zsolnay Verlag, Wien 2021. 139 Seiten, 19 €.
Carole Fives: Kleine Fluchten. Roman. Aus dem Französischen von Anne Braun. Zsolnay Verlag, Wien 2021. 139 Seiten, 19 €.

© Zsolnay

Fives’ Roman stellt wichtige Fragen, die nicht nur in Frankreich ihre Gültigkeit haben. Die erste ist eine soziale: Wie kann es sein, dass alleinerziehenden Müttern, gerade selbstständigen, immer noch sehr konkret Armut und Vereinsamung drohen?

Warum gibt es keine besseren Möglichkeiten der Unterstützung? Wieso schnappt diese Falle immer und immer wieder zu?

Soziale Benachteiligung alleinerziehender Mütter

Die zweite ist eine private: Wie fest muss, wie lose darf das Band der Liebe zwischen Mutter und Kind sein? Der französische Titel des Buches lautet „Tenir jusque'à l'aube“, auf Deutsch heißt das „Warte bis zum Morgengrauen“.

Er bezieht sich auf eine Passage in „Die Ziege des Herren Seguin“, eine Erzählung des französischen Schriftstellers Alphonse Daudet. Ausschnitte davon sind im Buch abgedruckt. Die Ziege, so heißt es einmal, brauche ein weites Feld. So zieht und zurrt sie an ihrem Strick.

Sind die kleinen Fluchten, für die die Mutter ihren eigenen Ziegenstrick kappt, lässliche Sünden oder Zeugnisse fehlenden Verantwortungsbewusstseins? Fives beantwortet diese Fragen nicht.

Wohl aber baut sie am Ende eine fast Thriller-artige Spannung auf, die eines aufzeigt: Das Grauen kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Die Mutter schiebt es weg, zieht mit ihrem Sohn in eine andere Gegend der Stadt. Ob es dort besser wird? Das bleibt offen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false