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Sie lebte selbst lange in Brasilien. Die Autorin Carmen Stephan, 1974 im bayerischen Berching geboren.

© Anita Affentranger

Carmen Stephans Roman „It’s all true“: Vier Fischer, ein Floß, ein Schicksal

„It’s all true“: Carmen Stephans philosophisch-religiöser Roman über Orson Welles, brasilianische Fischer und ein gescheitertes Filmprojekt.

Vier Männer sind über das Meer gekommen. Sind in einem selbst gebauten Floß, einer Jangada, von Fortaleza nach Rio de Janeiro gefahren, um den Präsidenten zu sprechen. 2381 Kilometer, 61 Tage unterwegs. In Rio werden sie wie Staatsgäste empfangen. Sie sind ausgezehrt, abgemagert, verbrannt von der Sonne, wund vom Salzwasser. Jacaré heißt ihr Anführer, ein Fischer aus Fortaleza. Auf den Stufen hinauf zum Präsidentenpalast hält ein Reporter ihm, der von seinen Gefährten gestützt wird, ein Mikrofon vor das Gesicht. Was die größte Schwierigkeit der gesamten Reise gewesen sei, fragt der Mann. Und Jacaré antwortet: „In dieses Mikrofon zu sprechen.“

Die Begebenheit, auf der Carmen Stephans schmaler, aber komplex gedachter Roman beruht, hat sich tatsächlich so ereignet: Im Jahr 1941 hat der Fischer Jacaré gemeinsam mit drei Freunden tatsächlich den Weg in die Hauptstadt zurückgelegt, um bei Getúlio Vargas, dem amtierenden Präsidenten Brasiliens, vorzusprechen und diesen auf die ungerechten Einkommensverhältnisse und Arbeitsbedingungen der Fischer aufmerksam zu machen.

Einige Monate später, im Dezember 1941, greifen die Japaner Pearl Harbour an, und die USA befinden sich im Krieg. In Los Angeles sitzt der Regisseur Orson Welles am Frühstückstisch und liest im „Times Magazine“ von der Großtat der vier armen Fischer. Von Präsident Roosevelt hatte er kurz zuvor den Auftrag erhalten, einen Film über Südamerika zu drehen, um die politisch unberechenbare Region im Bündnisfall auf die Seite der USA zu ziehen. Welles sagte zu und hatte auch bereits einen Titel: „It's all true“.

Es gibt keine Zufälle, es gibt nur die Wahrheit

Die Fischer-Episode sollte den vierten und letzten Teil bilden. Welles drehte nicht mit Schauspielern, sondern mit den vier Fischern aus Fortaleza noch einmal die Ankunft in Rio. „Ich will, dass ihr es genau so macht, wie es war“, sagt er zu den Jangadeiros. Als ob das möglich wäre, wenn die Kamera dabei ist. Etwa 50 Meter vom Ufer entfernt überspült eine Welle das Floß; Jacaré wird von Bord geschleudert und ertrinkt. Die Nachstellung seiner Heldentat hat ihn das Leben gekostet.

Carmen Stephans Interesse an dieser so tragischen wie kuriosen Geschichte geht weit über das faktisch Erzählbare hinaus. „It’s all true“ ist ein philosophischer, wenn nicht gar ein philosophisch-religiöser Roman, geschrieben in kurzen und dennoch assoziativ offenen Sätzen. Carmen Stephans Debütroman „Mal Aria“ (2012) war aus der Perspektive einer Mücke erzählt, und auch dort wurde die Gewissheit eines rational erfassbaren, stringent durchplanbaren Lebens erschüttert. In „It’s all true“ nun lautet die Quintessenz: Es gibt keine Zufälle; es gibt stattdessen eine Wahrheit, der alles unterworfen ist und in der alle Seins- und Ereigniszusammenhänge gleichberechtigt nebeneinandergestellt sind.

Die Verbindung des einfachen brasilianischen Fischers und des großen amerikanischen Filmemachers, der sich den kindlichen Blick und eine unverstellte Offenheit bewahrt hat, erscheint in diesem Buch nicht als eine kurzzeitige Berührung, sondern als Knotenpunkt eines untergründigen Netzes, über das sich die Falschheit des heutigen Menschseins gelegt hat. „Die Menschen“, so heißt es, „sterben sogar, ohne zu wissen, wer sie sind. Weil sie das Netz nicht mehr sehen können.“ Und: „Statt zum Grund der Dinge zu gehen, legt man einfach mehr Schichten darüber, ein Tuch nach dem anderen. Als gäbe es kleinere und größere Lügen, höhere und tiefere Wahrheiten. Es gibt aber nur eine Wahrheit. Einen Grund. Ein Netz. Unter dem Stein. Unter dem Singen der Vögel.“

Eine Geschichte der Entfremdungen, der Trennungen

Die Behauptung der einen, absoluten Wahrheit (das Wort Gott fällt erst gar nicht) ist in einer diversifizierten, aufgeklärten Gesellschaft eine Provokation. Und es wäre nur naheliegend, Carmen Stephan in einen esoterischen Kontext zu stellen. Doch so einfach ist es nicht, weil „It’s all true“ ein kompositorisch so entschieden durchgearbeitetes und motivisch so eng verflochtenes Buch ist, dass der Vorwurf weltanschaulicher Naivität an ihm abprallt.

Es ist eine Geschichte der Entfremdungen, der Trennungen all dessen, was zusammengehört: Land und Wasser. Gut und Böse. Oder auch die natürliche Verbindung aller Menschen untereinander. Die Trennung ist die Ursünde. Darum geht es. Der Abenteuerroman läuft als Unterhaltungsprogramm mit. Die Wahrheit selbst ist in „It’s all true“ aber auch wiederum aufgesplittert in diverse Partikel, in denen sich die Lebensgeschichten Jacarés’ und die von Orson Welles im Kunstprodukt des Films selbst spiegeln.

„It’s all true“ bedeutete für Welles einen Karriereknick. Die Produktionsfirma distanzierte sich noch während der Dreharbeiten von Welles und setzte ihn nach seiner Rückkehr umgehend vor die Tür. Den Film selbst hat er nie gesehen. Er blieb über Jahrzehnte verschollen und wurde erst 1981 wiederentdeckt. Welles weigerte sich, den Film anzuschauen. Er sei verflucht, ließ er mitteilen. Carmen Stephan hat – möglicherweise – diesen Fluch gebannt

Carmen Stephan: It’s all true. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017. 116 Seiten, 16 €.

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