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So viel Carmen. Paula Murrihy in einem ihrer vielen Kostüme.

© Monika Ritterhaus

"Carmen" an der Oper in Frankfurt: Familienoper goes Tingeltangel

Frech, temporeich und voller schwärzester Ironie: Barrie Kosky inszeniert Bizets Oper „Carmen“ in Frankfurt.

Barrie Kosky hat gerade einen großen Lauf: Der Ruhm seines grandiosen Zürcher „Macbeth“ ist noch nicht verhallt, da schiebt er in Frankfurt am Main eine „Carmen“ nach, die so brillant und böse ist, dass man in Georges Bizets Quotenhit ein neues Stück zu erkennen glaubt. Nach dem gebürtigen Griechen und Wahlrussen Teodor Currentzis steht in Frankfurt mit Constantinos Carydis wiederum ein Grieche am Pult, mit dem Kosky ein scheinbar wohl bekanntes Werk erst auf den Kopf und dann wieder auf die Füße stellt. Aber auf wirbelnde, kletternde, flüchtende und vor allem immer wieder tanzende Füße. Denn Kosky treibt seiner „Carmen“ die gemütliche Erotik pittoresker Folklore-Anklänge so gründlich und – hoffentlich! – endgültig aus, dass eine atemlose, freche und todverliebte Revue daraus wird. Die wohl auch dramatisch und von eisiger Grausamkeit ist, aber zugleich von bösem Witz und schwärzester Ironie.

Wie ist das möglich mit dem nach Mozarts „Zauberflöte“ beliebtesten Repertoire-Hit, der in der bekömmlichen Mischung aus malerischem Milieu, Erotik und knatternden Ohrwürmern gleichfalls stets das Etikett „Familienoper“ trug?

Die Dekonstruktion der Frankfurter „Carmen“ setzt in der Partitur an: Michael Rot hat Quellenforschung betrieben und die bekannten Versionen systematisch hinterfragt, Überschreibungen gestrichen, Kompromisse enttarnt und Striche aufgemacht. Das Ergebnis ist frappierend, denn die Oper schillert stilistisch zwischen Verismo, Offenbach-Operette und Opéra Comique und klingt wesentlich farbiger als der breitgetretene Sound, den man zu hören gewohnt ist.

Ein B-Teil, den man nie zuvor gehört hat

Die Instrumentation wirkt transparent, der Chor hat ungleich mehr zu tun, es gibt schmissige Tanzeinlagen, sogar eine Pantomime und der bekannteste der Ohrwürmer, die Habanera, hat einen ausladenden B-Teil, den man nie zuvor hörte. Und die leidige Frage, ob gesprochene Dialoge den durchkomponierten Rezitativen vorzuziehen seien, löst die „Carmen“ pragmatisch: Aus dem Off zelebriert eine rauchige Frauenstimme im Jane-Birkin-Sound Texte, die Barrie Kosky aus Meilhac, Halévy und Mérimée eingedampft hat.

Während in Prosper Mérimées Novelle Don José im Zentrum des Interesses steht, konzentrierte Georges Bizet sich überwiegend auf die Titelheldin, nur in der bislang gespielten Schlussszene steht plötzlich Don José im Mittelpunkt. Dass auch diese dramaturgische Schwäche ein später eingeführter Kompromiss war und eigentlich nicht in Bizets Sinn, stellt die Frankfurter Aufführung nun klar und spielt erstmals überhaupt die originalen Schlusspassagen, die einzig Carmen gehören.

Carmen ist Luder, Tragödin, Machtmensch und Opfer

So viel Carmen. Paula Murrihy in einem ihrer vielen Kostüme.
So viel Carmen. Paula Murrihy in einem ihrer vielen Kostüme.

© Monika Ritterhaus

Barrie Kosky treibt Bizets Besessenheit von der Hauptperson auf die Spitze, indem er sie nicht nur fast pausenlos – bis auf die zahlreichen schnellen Umzüge – auf der Bühne stehen lässt. Zwar muss Paula Murrihy in der Titelrolle im Corrida-Finale unter den blitzschnellen Messerstichen Don Josés einen wirkungsvollen Bühnentod sterben. Aber nur kurz liegt sie gekrümmt am Bühnenrand. Dann steht sie langsam auf, dreht sich zum Publikum, zuckt kurz mit den Schultern und zwinkert keck, als wollte sie sagen: tolle Show, was?

Zuvor war Murrihy in etlichen Varianten der mythischen Frauen-Figur erschienen: Zuerst als stummer Torrero-Charakter in rosa Seide, dann im Gorilla-Kostüm, aus dem sich eine androgyne Marlene-Dietrich-Blondine mit Schlips und Hose herausschält, dann als Charleston-Lady mit schwarzer Wasserwellen-Perücke, dann im wippenden Reifrock, zuletzt im schwarzen Flamenco-Kleid mit langer Schleppe. Diese Carmen ist Luder, Tragödin, Mannweib, Machtmensch, Unschuldige und Opfer, ist alle Frauen und zugleich eine große Leerstelle, ein eisiges Nichts.

Katrin Lea Tag hat als Bühne für dieses Spiel mit den Identitäten eine riesige, steile Treppe gebaut, auf der der fabelhaft singende, grell überschminkte Chor in strenger schwarz-weißer Farbregie abwechselnd in wimmelnder Bewegung ist oder in Stummfilm-Gestik einfriert.

Ein ungeheuer temporeicher Abend

Constantinos Carydis stürzt sich in die Ouvertüre mit einer Fortissimo-Attacke, vor der man zusammenzuckt wie unter einem Peitschenhieb und bleibt den ganzen Abend über fast penetrant offensiv. Radikalisiert die Tempi, geht dynamisch in beide Richtungen an die Grenzen, setzt eigenwillige Akzente und nimmt sich kuriose Accelerandi heraus.

Paula Murrihy singt die Carmen mit leichtem, hellem Mezzo, der kalkuliert kühl bleibt und sich nahtlos in das Rollenkonzept schmiegt. Joseph Callejas Don José, zu dem Kosky nicht besonders viel eingefallen ist außer einer täppischen Naivität, gibt mit herrlich gemischtem, weich schmelzendem Tenor ein respektables Rollen-Debüt, dem allerdings noch einige Glut-Grade fehlen. Daniel Schmutzhard ist ein öliger, eher leichtgewichtiger, baritonal geschmeidiger Escamillo, Karen Vuongs Michaela bleibt blass und ihr keusch timbrierter Sopran flackert in der Höhe bedrohlich. Am Schluss großer Jubel für einen ungeheuer temporeichen Abend und einige harsche Einsprüche für die Regie.

wieder am 15., 17., 19., 25., 29. Juni

Regine Müller

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