zum Hauptinhalt
Heißes Blut unter andalusischer Sonne. Clémentine Margaine als Carmen und Charles Castronovo als Don José.

© Marcus Lieberenz/bildbuehne.de

"Carmen" an der Deutschen Oper: Liebe geht durch die Nieren

Ole Anders Tandberg bringt in der Deutschen Oper eine neue „Carmen“ auf die Bühne.

Der Anblick ist schauerlich: ein riesenhaftes Stück Fleisch, blutig, wund, von Sehnen und Fasern durchzogen, blanke, nackte Körperlichkeit, eine einzige Allegorie auf den Schmerz. Ein Tierkopf offenbar, ein Stier mit tiefdunklen Augen, stumm und vorwurfsvoll in den Saal blickend. Mit diesem Gemälde, das sich quer über die Bühne spannt, empfängt die Deutsche Oper Berlin ihre Besucher – und setzt damit den Ton für das, was folgt: ein Drama, offiziell als „Opéra comique“ annonciert, aus Leidenschaft und Tod, Clash von Sehnsüchten und Idealen, gekleidet ins Kolorit des Stierkampfes.

„Carmen“ ist der unwahrscheinlichste aller Opernerfolge. Georges Bizet, der ihn als Komponist verantwortete, starb schon wenige Monate nach der tragisch erfolglosen Uraufführung 1875 im Mozart-Alter von Mitte 30. Und konnte nicht mehr miterleben, wie sich sein Werk zum meistaufgeführten des Repertoires auswuchs.

Seit 1979 hatte man an der Bismarckstraße die Inszenierung von Peter Beauvais im Programm, ab 2009 in der Überarbeitung durch Søren Schuhmacher. Für die Neuinterpretation wurde jetzt der norwegische Regisseur Ole Anders Tandberg geholt. Der Fleischberg, einmal verschwunden, gibt eine völlig andere Ästhetik frei (Bühne: Erlend Birkeland). Eine Tribüne, sonst nichts, als zentrale, ja einzige Kulisse. Sie dreht sich, wird zur Zigarettenfabrik, zur Stierkampfarena.

Das Wasser hat mehr Schaden angerichtet als gedacht

Selbstverständlich ist das nicht, der Wasserschaden von Heiligabend hat Schäden an der Elektronik verursacht, deren Behebung noch Wochen und Monate dauern wird. Jede Produktion muss angepasst, teilweise stark vereinfacht werden – wie Boleslaw Barlogs „Tosca“-Inszenierung, die wesentlich von den Kulissen von 1969 lebt. Operndirektor Christoph Seuferle spricht davon, die Bühne sei „zerstört“. Was das konkret bedeutet: Die meisten Scheinwerfer im Schnürboden müssen ersetzt werden, Teile des Bühnenbodens auch. Die Drehbühne funktioniert zwar, aber nicht die Untermaschinerie, mit der sie nach vorne gerollt wird. Also wurde für „Carmen“ eine Ersatzlösung ausgetüftelt, die Tribüne dreht sich jetzt selbständig, auf acht Motoren.

So wird ein Bühnenbild möglich, das zumindest im ersten Akt auf eigene Weise berührt. Kein naturalistisches Südspanien, kein heißes Blut dampft im gelben Sand. Die Hitze Andalusiens steckt in der Scheinwerferbatterie, die erbarmungslos von oben brennt und röntgenstrahlengleich eine Szenerie erhellt, die gerade in der Reduziertheit der Mittel die Konzentration auf die Musik gestattet. Vor allem: auf die hoffnungslos falsche Verbindung von Carmen und Don José. Clémentine Margaine, ehemals im Ensemble der Deutschen Oper und inzwischen international gefragt, hat ihr Rollendebüt als Carmen noch in der Schuhmacher-Inszenierung gegeben und gerade erst eine großartige Fidès in Meyerbeers „Prophète“ gesungen.

Das knallrote Rüschenkleid, das sie den ganzen Abend nicht auszieht (Kostüme: Marie Geber), ist natürlich nur Ironie. Referenz an die Legion der Carmen-Interpretationen. Es engt ihren Aktionsradius aber auch ein, panzert sie, und vielleicht ist das der Grund, warum sie am Ende weniger Applaus bekommt als Heidi Stober. Die singt allerdings tatsächlich eine spektakuläre Micaëla, sich verzehrend, wahrhaftig, angriffslustig trotz des extrem spießigen 50er-Jahre-Rocks, den sie tragen muss. Ganz gerecht wird der mangelnde Applaus Margaine nicht.

Eine selbstbestimmte Frau, Herrin ihrer selbst

Ihre Carmen ist anders, weniger fleischgewordene Männerfantasie als stolze Frau, die aus ihrer relativen Statik heraus umso intensiver wirkt, lauernd, mit in Kopf- wie Brustlage ansprechendem, voluminös-rotbraunem Mezzo. Und das, was Carmen in der Opernliteratur des 19. Jahrhunderts so einzigartig macht, vertritt auch sie: eine Frau, weder hüstelnd tuberkulosekrank noch fiebernd danach, den Helden erlösen zu dürfen. Sondern ungebunden, selbstbestimmt, offen für Ironie, den zentralen Begriff des Librettos lebend: „Freiheit“.

Wie kann das mit José gutgehen? Gar nicht. Das 18. trifft auf das 21. Jahrhundert. Charles Castronovo singt ihn mit etwas rustikalem Tenor, aber klassisch gut: ein sexy-athletischer Mann, der aber nie auch nur einen Schritt aus seinem geschlossen-romantischen Weltbild tritt und in Carmen im Grunde eine Reinkarnation der Mutter sucht. Die malt ihm ein Herz auf die Brust, aber dazu muss sie erst die Uniformknöpfe abschneiden.

Das Messer ist von Anfang an der Dritte im Bunde dieses fatalen Paars. Dass Escamillo viel besser zu Carmen passt, zeigt sich schon am grotesk überladenen, goldgelben Torero-Outfit: Abziehbild, Zitat wie sie. Markus Brück hat nicht seinen besten Abend, wirkt angestrengt, stemmt in der Höhe, gerät ausgerechnet bei der Auftrittsarie ins Stolpern. Nur in wenigen Momenten, in denen er die gängigen Torero-Posen parodiert, blitzt auf, was er eigentlich kann.

Affentempo mit Bremswirkung

Das Affentempo, mit dem Ivan Repušić am Pult die Ouvertüre eröffnet, lässt zunächst einen kurzen Abend befürchten. Doch der Kroate fängt sich bald, findet seinen Rhythmus – und gibt dieser fantastischen, von Nietzsche als Wagner-Antidot gepriesenen Musik den nötigen Raum. So jagt einem der Dreivierteltakt der Streicher wohlige Schauer über den Rücken, wenn Carmen José überredet, ihre Fesseln zu lösen. Für die rhythmisch prägnanten Achtelnoten, die Carmens Tanz in Lillas Pastias’ Kneipe begleiten, findet Regisseur Tandberg eine völlig neue Interpretation, indem er die Soldaten sich an Glory Holes vergnügen lässt.

Damit ist ein Problem der Inszenierung angesprochen: Sie hält die intensive Stimmung des ersten Aktes nicht durch, verliert sich in Gags wie dem riesigen Fisch, den ein Schmuggler reinträgt: Verweis auf die „Lady Macbeth von Mzensk“-Inszenierung, mit der sich Tandberg vor einigen Jahren in Berlin vorstellte und die er in eine Fischfabrik verlegte. Jetzt, bei „Carmen“, hat er einen unseligen Einfall: Was wird heute geschmuggelt? Richtig – Organe! Also reißt José Zuniga (Tobias Kehrer) die Nieren raus, und auch zum Tarotkarten-Terzett mit Frasquita (Nicole Haslett) und Mercédès (Jana Kurucová) hantiert Carmen mit Nieren, was die Szene ad absurdum führt. Schade ist das vor allem deshalb, weil Tandberg keinen wirklichen Zusammenhang mit dem Stück herstellt - will man nicht auf die banale Tatsache abheben, dass in „Carmen“ Körperlichkeit generell wichtig ist. Was Tandberg völlig unterlässt, ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Zigeuner“ und dem Bild, das wir uns von ihnen machen.

Erst im vierten Akt, in der Stierkampfarena, wenn die Schmugglerthematik in den Hintergrund tritt, findet die Inszenierung zur Stärke des Anfangs zurück. Der Jubel des von Jeremy Bines präparierten Chores ist falsch, künstlich und endet entsprechend in einem eingefrorenen Bild. Die Unheimlichkeit, die in Josés graumäusiger Uniform lauerte, bricht jetzt voll auf, wieder ist da ein Messer: Liebe bedeutet Zustechen. Ob er ihr am Ende auch noch das Herz rausreißen und triefend dem Publikum präsentieren muss? Konsequent ist es.

Wíeder 24./27.1., 4./10.2.

Zur Startseite