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Ester (Natalia López) macht in ihrer Beziehung mit Juan (Carlos Reygadas, links) die Ansagen.

© Grandfilm

Carlos Reygadas' Western „Nuestro Tiempo“: Demontage des männlichen Blicks

Verblüffende Vielstimmigkeit: In Carlos Reygadas’ flirrendem Neo-Western „Nuestro Tiempo“ steckt ein modernes Ehedrama.

Von Andreas Busche

Im Sattel ist dieses Paar unschlagbar, meinen die Handlanger auf der Ranch, die sich am Rande der Koppel zu einem Spektakel versammelt haben, voller Bewunderung. „Gibst Du mir Deckung?“ fragt der Cowboy mit Sonnenbrille seine Partnerin. „Du wirst langsam alt“, entgegnet sie lakonisch. Und schon schießt der Stier aus der Box, das lanzenbewehrte Paar auf Pferden hinterher: Der Bulle soll gezähmt werden, aber er ist zu schnell. Ester bringt das Tier schließlich zur Räson, die anderen Cowboys feixen: „Juan hat’s verbockt.“ Dieses Kräfteverhältnis bei der Arbeit verrät bereits einiges über die eheliche Dynamik in Carlos Reygadas’ fünftem Spielfilm „Nuestro Tiempo“. Die Frau nimmt den Ehemann gewissermaßen auf die Hörner.

Das Schreiben über den Western denkt die Klischees des Genres immer schon mit: Weite, Breite, das Verhältnis von Land und Himmel, die Männlichkeitsbilder. Der Mexikaner Reygadas ist einerseits ein perfekter Westernregisseur, weil er wie nur wenige Filmemacher der Gegenwart ein Gefühl für die Transzendenzerfahrung archaischer Landschaften besitzt, ohne gleich einem illustrativen Naturmystizismus zu verfallen. Dennoch ist das Cinemascope-Format für ihn mehr als eine Leinwand, auf der den Menschen lediglich ein ornamentaler Charakter zukommt. Reygadas – beziehungsweise seine Kameramänner Alexis Zabe und Diego García – besitzt die Kunstfertigkeit, so abstrakte wie konkrete Bilder zu schaffen, und dabei ist es nachrangig, ob er Menschen, einen Sonnenaufgang (wie in der phänomenalen Eröffnungsszene von „Stellet Licht“) oder, wie jetzt in „Nuestro Tiempo“, einen tropischen Regenschauer filmt.

Das Rancher-Ehepaar spielt sich selbst

Die Eheleute, gespielt vom Regisseur selbst und Natalia López, sind auch im wirklichen Leben miteinander verheiratet. Für Reygadas, der prinzipiell nicht mit professionellen Darstellern arbeitet, ist dieser autofiktionale Twist jedoch nicht der einzige Unterschied zu seinen bisherigen Filmen: Für einen überzeugten Skeptiker gegenüber dem klassischen Erzählkino wirkt „Nuestro Tiempo“ geradezu konventionell. Vielleicht abgesehen davon, dass er sich für sein Beziehungsdrama fast drei Stunden Zeit nimmt, sechs Minuten mehr als Bergman mit seiner Kinofassung von „Szenen einer Ehe“.

Doch Reygadas misstraut dem vermeintlich objektiven Blick des technischen Apparats. In einem Publikumsgespräch im Kino Arsenal vergangene Woche, anlässlich einer kleinen Werkschau, nannte er den finnischen Architekten Juhani Pallasmaa eines seiner Vorbilder. Pallasmaa spricht sich in seinem Buch „Eyes of the Skin“ für einen „tastenden Blick“ aus: „Modernes Design lädt den Intellekt und das Auge ein, aber es lässt unseren Körper und all die anderen Sinne, unsere Erinnerung wie unsere Träume unbehaust.“

Reygadas’ räumliche Erkundungen sind intuitiv

Auch Reygadas’ Bilder folgen keiner ordnenden Logik, seine räumlichen Erkundungen sind intuitiv, offen wie die Landschaften seiner Filme. In „Post Tenebras Lux“ von 2012 arbeiten er und Zabe mit veralteten Kameraobjektiven, deren Bilder an den Rändern ins traumhaft Unscharfe ausfransen und dadurch „Ghosting“-Effekte in den Konturen hervorrufen. Die Peripherie der Wahrnehmung verfasst eine eigene, entzauberte Wirklichkeit. Auch die panoramischen Einstellungen in „Nuestro Tiempo“ (von Diego García) folgen einem anderen Blickregime als dem der klassischen Zentralperspektive. Es lenkt den Blick nicht mehr, die Aufmerksamkeitsökonomie des modernen Erzählkinos ist in ihr aufgehoben.

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Das „tastende" Auge ist in den Filmen Reygadas die einzig verlässliche Instanz, wenn sich die Handlung irgendwann aufzulösen beginnt oder ganz zum Stillstand kommt. Doch in „Nuestro Tiempo“ findet er auch ein neues Verhältnis zu seinen Figuren. Ähnlich wie in „Stellet Licht“, der anderen Beziehungsgeschichte in Reygadas’ schmalem Œuvre, stehen seine Archetypen in einem symbiotischen Verhältnis zur Natur. Nur dass Ester und Juan von keinem religiösen Wunder heimgesucht werden. Die Illusion eines Freiheitsgefühls (oder eines freien Willens), das die Westernlandschaft noch evoziert, scheitert innerhalb eines letztlich bürgerlichen Beziehungskonstrukts an ganz banalen Problemen: Eifersucht, Narzissmus, Kontrollwahn.

Überkommene Männlichkeitsbilder

Denn die Eheleute haben einen Deal ausgehandelt. Der gefeierte Dichter Juan ist mit Frau und Kindern vor der Zivilisation auf seine Ranch im Norden Mexikos geflüchtet, dafür darf Ester mit anderen Männern schlafen – solange sie keine Geheimnisse vor ihm hat. Die Absprache wird einseitig aufgekündigt, als sich Ester in den „Bullenflüsterer“ Phil (Phil Burgers) verliebt, der auf der Ranch ein und ausgeht. Juan ahnt, dass seine Frau ihm etwas verheimlicht, aber stärker noch als seine Gefühle ist sein Ehrgefühl verletzt. Bislang hatte er Kontrolle über die außerehelichen Affären seiner Frau. Einmal, wie zum Beweis seiner Macht, arrangiert er sogar ein nächtliches Tête-à-Tête im Gästehaus der Ranch mit einem Freund der Familie. Aber Ester will sich nicht länger von Juans Eifersucht einengen lassen. In seiner Verzweiflung kontaktiert der Phil, um mit dem Nebenbuhler über den Kopf seiner Frau hinweg die Bedingungen ihrer Ménage à trois auszuhandeln.

Der mexikanische Regisseur Carlos Reygadas.
Der mexikanische Regisseur Carlos Reygadas.

© Grandfilm

Reygadas ist seit „Post Tenebras Lux“ als Filmemacher noch einmal gereift. „Nuestro Tiempo“ zeigt nicht nur die Demontage eines (gerade in seinen früheren Filmen nicht unproblematischen) männlichen Blicks: In seiner Spannerperspektive gibt Juan eine zunehmend lächerliche Figur ab. Reygadas vollzieht auch die formale Emanzipation Esters von diesem überkommenen Blickregime in verblüffenden Einstellungen: etwa einem siebenminütigen Landeanflug auf Mexiko Stadt, in dem sie Juan in einem liebevollen Off-Monolog alle Freiheiten zugesteht und ihm gleichzeitig seine Grenzen aufzeigt. Ihre Stimme schwebt gewissermaßen über den Wolken. Im Gegenzug wird die innere Einsicht Juans von der zehnjährigen Tochter eingesprochen.

Eine gewisse Eitelkeit ist Reygadas mit dieser Selbstdemontage nicht abzusprechen. Doch die fluiden Wechsel seiner Erzählperspektiven schaffen eine verblüffende Vielstimmigkeit, in der Genremotive und Beziehungsdrama einen durchaus ironischen Einklang finden. Das Gezerre der Männer um Ester findet ein perfektes Schlussbild im Duell zweier Stiere, das mit einem geradezu beiläufigen Sturz von einer Klippe endet. In der Natur hat der Tod nichts Mystisches mehr.

In den Kinos Brotfabrik, FSK, Hackesche Höfe, Lichtblick, Wolf (alle OmU)

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