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Edler Wettstreit. Im Hauptsaal stehen Thorvaldsens „Grazien mit Cupido“ (re.) neben Canovas „Drei Grazien“ (li.).

© B. Schulz

Canova und Thorvaldsen in Mailand: Ein wiederentdeckter Zugang zum Klassizismus

Das Zeitalter des Erhabenen: In Mailand wird den beiden Bildhauern des Neoklassizismus, Canova und Thorvaldsen, eine großartige Ausstellung zuteil.

Schwer zu sagen, wann in der Kunst ein neuer Stil, ein neues Stilempfinden auftritt, durch was es veranlasst wird und warum es sich durchsetzt. Man ist im Nachhinein geneigt, ein einzelnes Ereignis zur Erklärung heranzuziehen; aber es muss den Resonanzraum geben, in dem ein neuartiges Werk wirken und Bewunderer und Nachahmer finden kann.

Die Schriften Winckelmanns, des aus dem Provinzstädtchen Stendal stammenden Hauslehrers und Bibliothekars, markieren einen solchen Einschnitt. Sein 1755 in zunächst nur 50 Exemplaren gedrucktes Buch „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ machte Sensation, es wurde bald in erweiterter Neuauflage in ganz Europa gelesen. Gleich zu Beginn findet sich der Satz: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.“

Erhaben und Ideal

Das ist der Kern des Klassizismus. Winckelmann und mit ihm die Vertreter des Klassizismus setzten sich ab gegen das übersteigerte Pathos des Barock und die dekorative Verspieltheit des Rokoko, sie suchten die verlorenen Eigenschaften der Antike, und nur vor diesem Hintergrund ist Winckelmanns vielstrapazierte Formel von der „edlen Einfalt, stillen Größe“ der griechischen Kunst zu verstehen.

Es war die antike Bildhauerkunst, die den Maßstab gab; sie stand ja in den Sammlungen und Palazzi insbesondere Roms vor Augen. In diese Stimmung einer Zeitenwende hinein kam Antonio Canova, der mit ersten Skulpturen Aufsehen erregt hatte, als 24-Jähriger aus Venedig 1781 nach Rom, 1796 aus Dänemark der 26-jährige Bertel Thorvaldsen, der bald gleichermaßen als würdiger Nachfolger der Antike galt.

Die Begeisterung, die die Marmorplastiken der beiden Künstler in ganz Europa entfachten, ist heute nicht leicht nachzuvollziehen. Die jetzt in Mailand gezeigte Ausstellung „Canova Thorvaldsen. Die Geburt der modernen Skulptur“, die in großer Zahl Werke beider Künstler vereint, ermöglicht einen bislang kaum möglichen Zugang zum Klassizismus. Man könnte auch sagen: einen wiedergefundenen Zugang.

Johann Gottfried Schadow, der Berliner Hofbildhauer und Zeitgenosse, schrieb rückblickend über eine Figurengruppe Canovas, „sie war der Beginn einer neuen Epoche, nämlich der des Erhabenen und Idealen“. Diesem „Erhabenen und Idealen“ gaben Canova und Thorvaldsen gleichermaßen, doch auf je individuelle Weise Ausdruck. Und so ist der Besucher der Ausstellung in der Mailänder Galleria d’Italia der die Ausstellung finanzierenden Großbank Intesa SanPaolo ständig versucht, der vorgestellten Größe der in Marmor gehauenen Figuren innerlich nahe zu kommen.

Ein Konflikt im Klassizismus

In der durchweg symmetrisch aufgebauten Ausstellung, die jedem der beiden Künstler gleichgroßen Platz einräumt, wird ein Konflikt sichtbar, der den Klassizismus begleitete, sobald er sich aus der Darstellung mythologischer Figuren in die eigene Gegenwart begab. Das griechische Ideal der Schönheit, die sich in einem makellosen Körper ausdrückt und darin zugleich als seelische Schönheit verkörpert ist, konkurrierte mit dem römischen Vorbild der Porträtbüste, die den Charakter der dargestellten Person zum Ausdruck bringt.

Denn bald wollten Auftraggeber aus ganz Europa von den Bildhauern konterfeit werden, und so zieren zahllose Porträtbüsten die weitläufige Ausstellung. Da war nicht mehr ein abstraktes Ideal gefragt, sondern Idealisierung des Gegebenen, will sagen das rücksichtsvolle Glätten körperlicher Schwächen und Falten.

Beider Künstler Werke waren in ganz Europa präsent, weniger im Original, als durch Stiche in Büchern und Zeitschriften, und sie waren ihrerseits als Vorbilder wirksam. Zudem gab es einen regen Manufakturbetrieb von Nachbildungen. So schufen die beiden in Berlin gebürtigen, nach Rom übersiedelten Bildhauer Wilhelm Hopfgarten und Benjamin Jollage vergoldete Bronzen von Thorvaldsen-Figuren wie der Mundschenkin „Hebe“ oder des „Jason mit dem Goldenen Vlies“. Auch solche Vervielfältigung dokumentiert die ungemein lehrreiche, doch nie pedantische Ausstellung

Begeisterung entfachten die antikisierenden Skulpturen der drei Grazien, von Amor und Psyche mit dem die Seele versinnbildlichenden Schmetterling, von ewiger Jugend in Gestalt der Hebe oder des Jünglings Ganymed. In ihnen wurde der von Winckelmann betonte Umriss der griechischen Skulptur Wirklichkeit, die schöne Linie, die alle Körperteile zu einem harmonischen Ganzen vereint.

Schönheit frei von Ort und Zeit

Häufig gab Canova das Thema vor, und der 14 Jahre jüngere Thorvaldsen folgte und formte es auf seine eigene, nüchternere Weise. Die deutschen Romantiker in Rom, die sich für Thorvaldsen begeisterten, auch wenn sie seine Ideale nicht teilten, sahen in ihm die Vergeistigung, die sie selbst ebenso erstrebten.

Es sind all’ diese Skulpturen im makellos weißen Carrara-Marmor, die die Besucher der Mailänder Ausstellung anziehen, weil sie frei von Ort und Zeit der Schönheit huldigen. Sie ist für Heutige eher nur in den tausendfachen Selfies erfahrbar, die Besucherinnen unentwegt vor und mit den Skulpturen anfertigen.

Aber es ist historisch alles andere als eine stillgestellte Zeit. Im Gegenteil, es ist die Epoche der Französischen Revolution, die die alten Ordnungen hinwegfegt. Rom bleibt als Ort der Kunst von den europäischen Katastrophen einigermaßen verschont, bis Napoleon auf die Kunstwerke Anspruch erhebt und sie in großer Zahl nach Paris entführt.

Das Verhältnis der Künstler zum Machtmenschen blieb gespalten wie das der Philosophen: Von Hegel als „Weltgeist zu Pferde“ gerühmt, huldigten beide Künstler Napoleon auf unterschiedliche Weise. Während es Canova bei einer antikisierenden, doch in der Bewegung des Kopfes zugleich modernen Büste belässt – und lieber zahlreiche Aufträge für dessen erste Gattin Joséphine ausführt –, vergöttert Thorvaldsen den Selfmade-Kaiser noch 1830, neun Jahre nach dessen Tod, in einem von Adlerschwingen getragenen, von Lorbeer umkränzten Bildnis.

Eine Fußnote gesamteuropäischer Geschichte

Winckelmanns anspruchsvolles Griechen-Bild war da bereits verblasst, die Antike zur Selbstdarstellung bürgerlicher Existenz herabgesunken. Canova übrigens war nach Napoleons Sturz der Beauftragte des Papstes zur Rückführung der entführten italienischen Kunstwerke, auch das eine Fußnote dieser gesamteuropäischen Geschichte.

Es liegt in der Natur der temporären Ausstellung, dass die monumentalen Arbeiten beider Bildhauer hier nicht oder nur in kleineren Studien zu sehen sind. Ein Blick in den vorzüglichen, wissenschaftlichen Katalog genügt, um etwa anhand Canovas 1805 vollendetem Wiener Grabmal der Erzherzogin Marie Christine oder Thorvaldsens Kopenhagener Christus-Figur die größeren Ambitionen beider Bildhauer zu erkennen.

Ohne den Besuch beider Künstlermuseen, das eine in Possagno im Norden des Veneto, das andere in Kopenhagen, bleibt das Bild beider Lebensleistungen zwar unvollständig. Doch so umfassend wie in Mailand hat man die beiden Meister der Neoklassik noch nie gemeinsam gesehen.
[Mailand, Gallerie d’Italia, Piazza Scala, bis 15. März. Katalog bei Skira (ital.) 35 €. Infos unter www.gallerieditalia.com]

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