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Körperhorror. Davis Cronenbergs „Crimes of the Future“ mit Léa Seydoux (r.) und Kirsten Stewart.

© Nikos Nikolopoulos

Cannes Tagebuch (7): Chirurgie ist Sex

Das Filmfestival von Cannes erkundet Fleisch und Psyche: Körperhorror von David Cronenberg und Kriegshorror von Sergej Loznitsa.

Von Andreas Busche

Cannes ist seit jeher ein guter Ort für Comebacks. 2016 kehrte Ken Loach nach nur zwei Jahren Pause aus dem erklärten Ruhestand zurück, um mit „Ich, Daniel Blake“ die Goldene Palme zu gewinnen; im selben Jahr triumphierte Paul Verhoeven (damals 78) mit seinem Meisterwerk „Elle“. Auch in den vergangenen Tagen richtete sich alle Aufmerksamkeit auf einen Regisseur reiferen Jahrgangs, den eine Hassliebe mit Cannes verbindet.

Der 79-jährige Bodyhorror-Maestro David Cronenberg ist an der Croisette skandalerprobt: 1996 sorgte er mit seinem Autosex-Drama „Crash“ für Kontroversen, 1999 als Jurypräsident. Cronenberg ist also der richtige Regisseur, um einen schläfrigen Jahrgang rechtzeitig aufzurütteln – zumal er vorab schon aus dem Kino fliehende Zuschauer:innen prophezeite.

Cannes würdigt seinen Einfluss auf das Horrorkino

„Crimes of the Future“ mit Léa Seydoux, Viggo Mortensen und Kristen Stewart ist tatsächlich „Vintage-Cronenberg“, das Timing könnte also gar nicht perfekter ausfallen. Im Vorjahr gewann mit dem zärtlichen Schocker „Titane“ von Julia Ducournau ein Film die Goldene Palme, der dem kanadischen Regisseur viel verdankt.

Für Cannes ist „Crimes of the Future“ somit die Gelegenheit, seinen Einfluss nicht nur aufs Horrorkino zu würdigen. Cronenberg offenbart allerdings auch, dass die nächste Generation sein Konzept des „Neuen Fleisches“ (aus „Videodrome“) bereits radikaler denkt.

Mortensen spielt einen Performancekünstler, der in einer nahen Zukunft seinen „anarchischen“ Körper in ein Kunstwerk verwandelt. Die Menschheit befindet sich vor der nächsten Evolutionsstufe: Neue Organe wuchern in den Menschen, die sich Saul Tenser mit Hilfe seiner Partnerin Caprice (Seydoux) vor Publikum entfernen lässt.

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„Chirurgie ist der neue Sex“, beschwört Tenser, und tatsächlich sind in „Crimes of the Future“ alle latent geil – besonders Timlin (Stewart), die Mitarbeiterin des neuen Sittendezernats, das den Sexfetisch und die kommerzielle Ausbeutung der Körper unterbinden soll. Stewart bekommt nicht viel zu tun, aber die atemlosen Worte ihres „Organ-Groupies“ suggerieren morbide Erotik-Thriller-Fantasien.

Das Set-up ist effektvoll, nur scheinen Cronenberg mehr (etwas halbgare) philosophische Spekulationen zu interessieren als der Thrill der Triebbefriedigung. Auch seine Lustmaschinen, darunter ein Hightech-Sarg für die Live-OPs, leiden unter einem augenscheinlich kärglichen Budget.

Loznitsa lebt zeitweise in der Ukraine

Es wird zwar nie langweilig, ihm beim Ausformulieren seiner provokanten Ideen zuzusehen, doch Cronenbergs markantes world building fällt visuell diesmal weniger tiefgründig aus als die Grenzen unserer (perversen) Vorstellungskraft.

Ebenfalls mehr interessiert an Thesen als an Körpern ist „Natural History of Destruction“, Sergei Loznitsas Meditation über das psychologische Mindset hinter Vernichtungskriegen. Nur ein Mal sind in dem über 70 Jahre alten Archivmaterial tote Zivilisten zu sehen, sein Film kulminiert in klinischen Luftaufnahmen der alliierten Angriffe auf deutsche Städte.

Beide Kriege sind nicht gleichzusetzen

Der seit einigen Jahren in Berlin lebende Loznitsa gehört dieses Jahr zu den meistantizipierten Regisseuren. Und auch wenn er das Ausmaß des Krieges in seiner Heimat kaum ahnen konnte, resoniert sein Film mit der Nachrichtenlage. Loznitsa stellt die Propaganda von wehrhaften Alliierten und leidenden Deutschen einander gegenüber, unterlegt mit fragwürdigen  Mitteln (Musik, Stimmen).

Dass beide Kriege moralisch nicht gleichzusetzen sind, schwächt seine Argumentation über die Verhältnismäßigkeit der Kriegsführung aber entscheidend. Die Aggression einer Invasion wird psychologisch durch keinen noch so martialischen Befreiungskrieg verständlicher. Loznitsa „provoziert“ gerne zum Nachdenken, aber „Natural History“ wirft mehr Fragen als Antworten auf.

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