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Adriano Tardolio in "Happy as Lazzaro".

© Cannes Festival

Cannes-Tagebuch (6): Land der Tränen, Land im Umbruch

Rohrwacher, Jia Zhangke und Jafar Panahi präsentieren ihre Filme im Wettbewerb.

Von Andreas Busche

Cannes weint. Seit zwei Tagen hängt ein Tief über der Côte d’Azur, wahre Sturzbäche ergießen sich in den Straßen. Ein gutes Geschäft für die afrikanischen Regenschirmhändler, die sich schon in den frühen Morgenstunden an den Straßenecken einfinden. Die Meteorologie macht die Klassenverhältnisse jenseits des roten Teppichs sichtbar; die Festival-Demografie ist ansonsten sehr homogen, sprich: weiß. Das Wetter passt zur leicht bedrückten Stimmung, der Schock über den Pariser Messerangriff war auch in Cannes spürbar, für einen Moment herrschte an der Croisette Ausnahmezustand. Doch schon am Montag dominieren nicht mehr schwer bewaffnete Polizisten das Straßenbild, sondern Schirme in allen Farben. Ein wenig Berlinale-Gefühl an der Croisette.

Buchstäblich zum Weinen war auch – ohne Kafkas Tagebucheintrag über einen Kinobesuch überstrapazieren zu wollen – die Premiere von Alice Rohrwachers „Happy as Lazzaro“. Die italienische Regisseurin rührte erst das Galapublikum zu Tränen und dann ihre eigene Crew, die von den Standing Ovations sichtlich ergriffen war. Es ist schwer in Worte zu fassen, was Rohrwacher mit ihrem dritten Film eigentlich vollbracht hat. Schon „Land der Wunder“ (Jury-Preis Cannes 2014) war in einer spröden agrarkulturellen Realität angesiedelt, durchdrungen vom magischen norditalienischen Sonnenlicht, von mirakulösen Alltagsphänomenen und einem kindlichen Staunen.

Ende einer Idylle

Rohrwachers Titelfigur, gespielt von Adriano Tardiolo, hat sich diese Naivität in „Happy as Lazzaro“ bewahrt. Er ist etwas langsam im Kopf, was ihn für die Einfachheit der Szenerie umso empfänglicher macht. Er lebt mit anderen Landarbeitern auf der Tabakplantage der Marquise und „Zigarettenkönigin“ Alfonsino de Luna in modernen Sklavenverhältnissen – wobei „modern“ es nicht wirklich trifft. Rohrwachers Film ist wie aus der Zeit gefallen: Die leicht unscharfen 16-Millimeter-Bilder mit den runden Ecken und den ausgefisselten Bildrändern evozieren eine Epoche, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart parallel zu existieren scheint. Bis plötzlich Gendarme auf der Farm auftauchen und dem vermeintlich idyllischen Landleben ein Ende bereiten.

An diesem Punkt nimmt „Happy as Lazzaro“ eine unerwartete Wendung, die dieses kleine Wunder von einem Film in die heutige italienische Gesellschaft zurückholt. Jetzt leben die früheren Leibeigenen in selbst gebauten Shantytowns; die Geschichte wiederholt sich, unter verschärften Bedingungen. Cannes-Jurys haben in den vergangenen Jahren schon öfter mit kontra-intuitiven Entscheidungen verblüfft (siehe vor zwei Jahren das Übergehen von „Toni Erdmann“), aber in Anbetracht der Debatten der vergangenen Tage – und einer Jury-Präsidentin –, gilt Rohrwacher schon jetzt als aussichtsreiche Palmen-Anwärterin.

Überaus gegenwartsnah ist dagegen „Ash is the Purest White“ von Jia Zhangke, der zwischen 2001 und 2018 in den chinesischen Provinzen Shanxi und Hubei spielt. Der Kleinkriminelle Bin (Fan Liao) und seine Freundin Qiao (Zhao Tao) sind das Traumpaar der Unterwelt, das Titelstück von John Woos Gangsterepos „The Killer“ fungiert als Soundtrack ihres Lebens. Aber China steht vor einem gesellschaftlichen Umbruch, der alte Gangsterkodex der „Jianghu“ gilt nichts mehr in der jüngeren Generation, die ähnlich rücksichtslos wie die Regierung ihr Gewaltmonopol ausweitet. Um das Leben Bins zu retten, begeht Quin einen Mord, für den sie dann aber ins Gefängnis muss.

„Ash is the Purest White“ ist der bislang zugänglichste Film von Jia Zhangke, der sich als kritischer Chronist von Chinas Modernisierung im Weltkino einen Namen gemacht hat. Die Gewalt ist nicht mehr ganz so explizit wie noch in „A Touch of Sin“ von 2013, es überwiegt ein melancholischer Grundton, der mit fortschreitenden Jahren auf das Requiem eines Scheiterns einstimmt, einer verpassten Chance für das Land. Die Schauspielerin Zhao Tao, Ehefrau des Regisseurs, trägt den Film nahezu allein.

Ein iranischer Regisseur befreit sich

Einen bescheidenen Beitrag zur MeToo-Bewegung leistet auch der Iraner Jafar Panahi mit „Three Faces“, seinem vierten Film, der unter den Bedingungen von Drehverbot und Hausarrest entstanden ist. Die junge Mariziyeh (Marizyeh Rezaei) schickt ein Handyvideo ihres vermeintlichen Selbstmords an ihr Idol, den Filmstar Behnaz Jafari. Um den Verbleib des Mädchens zu klären, reist die Schauspielerin mit ihrem Freund Panahi ins iranische Hinterland, wo die beiden auf einen jähzornigen Bruder treffen, der die Schauspielambitionen seiner kleinen Schwester eine Schande nennt, sowie auf eine verbitterte Kino-Diva und eine skurrile, letztlich den Traditionen verhaftete Dorfgemeinschaft. Panahis erster Blick über den Horizont seines eigenen Schicksals hinaus ist wieder verblüffend einfallsreich und humorvoll – und ein tolles Komplementärstück zu seinem Frauen-undFußballfilm „Offside” von 2006.

Für seine letzte Produktion „Taxi Teheran“ wurde Jafar Panahi 2015 in Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Nach einer kurzen Phase der Depression wirken seine jüngsten Filme wie eine Befreiung – von der iranischen Zensur, aber auch von den Beschränkungen des Erzählkinos.

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