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Nouvelle-Vague-Regisseure wie Francois Truffaut (rechts neben dem Mikro) wollten 1968 in Cannes lieber diskutieren als Filme schauen.

© picture-alliance/ dpa

Cannes-Tagebuch (4): Gut gelaunter Stinkstiefel

Erinnerungen an den Festivalabbruch vor 50 Jahren und ein Blick auf Godards fulminante Filmcollage „The Image Book“.

Von Andreas Busche

Auch wenn Jean-Luc Godard es wieder nicht nach Cannes geschafft hat, ist der Maestro auch in diesem Jahr an der Croisette allgegenwärtig. Das Plakat der 71. Filmfestspiele ziert ein Motiv aus „Pierrot le Fou“ von 1965, die ikonische Kuss-Szene zwischen „Bebel“ Belmondo und Anna Karina durchs geöffnete Autofenster. Eine versöhnliche Geste zum 50. Jubiläum jener legendären Festival-Ausgabe, die von den jungen Wilden Godard und Truffaut vor dem Hintergrund der Pariser Studentenunruhen im Mai ’68 gecrasht wurde. Im Grunde beginnt die Geschichte von Cannes erst mit diesem Datum, 1968 verlagerte sich die Macht von den Produzenten hin zu den Regisseuren. Im folgenden Jahr fand erstmals die „Quinzaine des réalisateurs“, ein Schaufenster für den Regie-Nachwuchs, statt.

Diskutieren für die Weltrevolution

Die Gründe für den Protest, der früh von Claude Berri, Claude Lelouch und Louis Malle mitgetragen wurde, waren damals nicht unumstritten. Gerade erst war der kurz zuvor gefeuerte Henri Langlois nach internationalen Protesten wieder als Leiter der Cinematheque Francaise eingesetzt worden. Zumindest die Cinephilie erschien in den stürmischen Maitagen befriedet, während das Land von einer Streikwelle lahmgelegt wurde – wie übrigens auch in diesen Tagen mal wieder. Aber Godard und Truffaut wollten ihre Solidarität mit den protestierenden Studenten bekunden, was vor allem die Regisseure aus dem Ostblock irritierte.

Milos Forman, mit „Der Feuerwehrball“ im Wettbewerb vertreten, und Jury-Mitglied Roman Polanski waren gerade den kommunistischen Regimes in ihren Heimatländern entkommen und alles andere als einverstanden damit, ausgerechnet unter einer roten Flagge zu streiken. Polanski nannte die Franzosen „kleine Jungs, die Revolutionär spielen“. Es half nichts: Immer mehr Regisseure zogen ihre Filme zurück, schließlich gab auch die Jury nach. Am 19. Mai war das Festival vorbei, fünf Tage vor dem offiziellen Abschluss. 1968 bedeutete das Ende des elitären Cannes-Systems, in Frankreich hingegen blieb alles beim Alten. Einen Monat nach den Protesten wurde de Gaulle mit großer Mehrheit wiedergewählt.

Jubiläum ohne Gefühlsduselei

Zum Jubiläum gibt sich Cannes – abgesehen vom Festivalplakat – nicht so gefühlsduselig. Man würdigt das Ereignis jedoch gebührend mit der Berufung des inzwischen 87-jährigen Godard in den Wettbewerb. Der Maestro bleibt der Premiere von „Le Livre D’Image“ („The Image Book“) am Freitag selbstverständlich fern, Godard verlässt sein Haus im schweizerischen Rolle für solch nichtige Anlässe nicht mehr. Vergangenes Jahr wurde man in Agnès Vardas hinreißendem Dokumentarfilm „Gesichter einer Reise“ sogar Zeuge, wie Godard seine Weggefährtin vor verschlossener Tür stehen lässt. In Cannes wird er inzwischen wie der stinkstiefelige Großonkel behandelt, dessen Exzentrik die Familie großzügig übersieht. Festival-Leiter Thierry Frémaux weiß schließlich, was Cannes Godard zu verdanken hat. Der erzählt dann später in einer denkwürdigen Pressekonferenz, zugeschaltet via Face Time, dass „The Image Book“ nur fertiggestellt werden konnte, weil Frémaux ihn zum Festival eingeladen hatte – nachdem die französischen Geldgeber abgesprungen waren.

„The Image Book“ erweist sich dann auch wieder als echter Godard, jedoch wesentlich interessanter als zuletzt die Kreuzfahrt-Parabel „Film Socialisme“ und das 3-D-Kuriosum „Goodbye to Language“. Formal knüpft Godard an sein Opus Magnum „Histoire(s) du cinéma“ an, eine frei assoziierende Reise durch die Filmgeschichte. Nur dass sich hier in die frenetische Montage immer wieder reale Nachrichtenbilder (Atombombenexplosionen, das My-Lai-Massaker, Massengräber) mischen, die kollektive Kino-Erinnerungen in einem Tableau der Grausamkeiten des 21. Jahrhunderts verweben. Die Bild- und Soundtexturen sind asynchron, zerstört, scharfkantig, bruchstückhaft. „Im Fragment ist schon das Wesen des Ganzen enthalten“, sagt Godard einmal mit brüchiger Stimme aus dem Off. Und: „Es besteht ein Widerspruch zwischen der Darstellung von Grausamkeiten und der Ruhe in den Darstellungen selbst.“

Abschied auf Raten

„The Image Book“ stellt einen weiteren Schritt in Godards langsamer Abwendung vom Kino dar. Die Produzenten Fabrice Aragno und Mitra Farahani kündigten auch bereits an, dass der Film die Grundlage für eine interaktive Ausstellung im kommenden Jahr sein soll. Was überhaupt nicht gegen „The Image Book“ als Film spricht, im Gegenteil: Godards Collage (die Liste der Bild- und Textquellen zieht sich in den Credits über eine gute Minute) implodiert regelrecht vor Ideen und Querverweisen. Seine Gedanken zum Zustand der Welt sind nicht mehr ganz kohärent – vor allem, wenn er sich im letzten Drittel seinem neuen Steckenpferd, der politischen Lage im Nahen Osten, widmet –, aber die Form ist bestechend. Vor allem den Mehrkanalton weiß er, im Gegensatz zur 3-D-Technik, spektakulär einzusetzen. Die stereophonischen Effekte, die Stimmen und Geräusche wie Flipperkugeln durch den Kinosaal jagen, doppeln die Vielschichtigkeit von Godards Ideengeschichte.

Kein Wunder, dass sich die Journalisten und Journalistinnen während der Pressekonferenz aufgeregt um den Lautsprecher auf dem Podium drängen (ein absurder Anblick), um brav ihre Fragen an den Meister persönlich zu stellen. Und Godard zeigt sich in bester Laune, er macht sogar ein paar Witze und verziert seine ausschweifenden Antworten mit launigen Arabesken: „Die Menschen müssen wieder lernen, mit ihren Händen zu denken.“ Godard könnte im Grunde auch den Festivalkatalog vorlesen. Die kratzige, fragile Stimme des Orakels von Rolle noch einmal in natura zu hören, versetzt die sonst so hektischen Medienvertreter in andächtige Verzückung. Mit Jean-Luc Godard hat sich Cannes in diesem Jahr selbst das schönste Geschenk gemacht.

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