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Warten auf die Gewinner. Mit Nuri Bilge Ceylans Film "Ahlat Agaci" geht der Wettbewerb von Cannes zu Ende.

© Festival

CANNES Tagebuch (10): Herz und Blut

Das Filmfestival an der Croisette geht zu Ende - unser Kritiker sieht rot und hofft auf eine Palme für Alice Rohrwacher

Von Andreas Busche

Das Profil von Cannes schärft sich in diesem Jahr auch über die Filme, die nicht an der Croisette laufen, wie etwa „Suspiria“, das hoch gehandelte Remake von Dario Argentos gleichnamigem Thriller. Regisseur Luca Guadagnino („Call Me By Your Name“) will seinen nächsten Film lieber in Venedig zeigen, um seine Oscar-Chancen zu verbessern. Es ist nicht der einzige Titel, der Cannes durch die Lappen gegangen ist. Stattdessen läuft zum Ende des Festivals Yann Gonzalez’ zweiter Spielfilm „Knife and Heart“, eine inspirierte Programmierung – und gewiss ein adäquater „Suspiria“-Ersatz.

Der Film atmet Argento durch jede Pore: stahlblaues Licht mit roten Spots, ein entstellter Killer, ein blinder Rabe, 80er-Reminiszenzen. Gonzalez gilt seit seiner polyvalenten Sexorgie „Begegnungen nach Mitternacht“ (mit Fußball-Philosoph Éric Cantona in der Rolle des „Hengsts“) als aufsteigender Star des Queer Cinema. „Heart and Knife“ entspricht seiner Reputation. Popstar Vanessa Paradis spielt Anne, eine Regisseurin von Schwulenpornos – in den späten Siebzigern eine boomende Industrie zwischen Kommerz und Hedonismus. Ein Killer, seine Waffe ist ein Dildo mit Schnappklinge, treibt am Set sein Unwesen, Anne adaptiert die Mordserie in Echtzeit für ihren aktuellen Film „Homocide“. Ungehemmte boy-on-boy-Action im altehrwürdigen Festivalpalais an der Croisette: „Knife and Heart“ bringt zwischen gewichtigem Autorenkino und überambitionierten Messagefilmen zum Ende des Festivals noch mal etwas Farbe in den Wettbewerb. Blutrot.

„Happy as Lazzaro“ ist der vollkommenste Film dieses Jahrgangs

Vor allem Messagefilme hatte Cannes dieses Jahr einige im Programm. Gut gemeinte Sozialdramen mit einem funktionalen ästhetischen Konzept: Handkamera, keine Musik, Plansequenzen, mit einer einzigen Figur im Mittelpunkt. „Ayka“ von dem kasachischen Regisseur Sergei Dvortsevoy sei stellvertretend genannt. Mit dem Tundra-Drama „Tulpan“ gewann er 2008 den Hauptpreis in der Reihe „Un certain regard“, sein Debüt im Wettbewerb knüpft nahtlos daran an. Die junge Kirgisin Ayka lässt ihr Neugeborenes in einem Moskauer Krankenhaus zurück. Der Film folgt ihr über 100 Minuten auf einer Odyssee durch Moskau, auf der Suche nach Geld und medizinischer Versorgung. „Ayka“ gewährt einen erschütternden Einblick in die Lebenssituation ethnischer Minderheiten am Rande der russischen Gesellschaft, doch Dvortsevoys immersiver Stil überwältigt mehr, als dass er berührt. Der Dokumentarfilmer hätte vielleicht besser bei seinem Metier bleiben sollen.

Mit dem türkischen Regisseur Nuri Bilge Ceylan, auch er eine Autorenfilm-Größe, geht der Wettbewerb zu Ende. Prognose für die Palmen-Verleihung am Samstag: Wenn die Jury um Cate Blanchett die Diskussionen der vergangenen zehn Festivaltage ernst nimmt, kann die Gewinnerin eigentlich nur Alice Rohrwacher heißen. Rohrwachers „Happy as Lazzaro“ ist der vollkommenste Film dieses Jahrgangs, poetisch, magisch, sozialrealistisch, voller denkwürdiger Figuren. Schöner könnte Cannes die selbsterklärte neue Ära nicht einleiten.

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