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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj appelliert in Cannes an die internationale Film-Community..

© Vianney Le Caer/Invision/AP/dpa

Cannes Tagebuch (1): Selenskyj ruft das Kino zur Verantwortung auf

Bei der Eröffnungsgala des Cannes Filmfestivals hat der ukrainische Präsident einen Überraschungsauftritt via Videoschalte. Ein Vorgeschmack auf die kommenden zwei Wochen.

Von Andreas Busche

Die Verbindung von Kino und Krieg reicht zurück bis auf die Schlachtfelder der Westfront. Der britische Propagandafilm „The Battle of the Somme“ lieferte 1916 erstmals Bilder aus den Schützengräben. Krieg und die Kulturindustrie bedingten sich schon immer gegenseitig – die Geschichten, die Tragödien, die Technologien. Dieses Jahr läuft in Cannes 36 Jahre nach dem Original – 1986 übrigens die erste Partnerschaft von Hollywood und US-Militär – das Actionspektakel „Top Gun: Maverick“. Im Sequel bleibt der Endgegner aus diplomatischen und wirtschaftlichen Erwägungen anonym.

Auch Wolodymyr Selenskyj nahm am Dienstagabend auf der Eröffnungsgala des 75. Cannes Filmfestivals den Namen seines Widersachers nicht in den Mund. „Der Diktator wird nicht siegen!“, lautete seine Botschaft an die versammelte Glamourfraktion des Weltkinos. Und er brachte via Videoschalte noch einen Auftrag als kleines Gastgeschenk mit: „Hunderte Menschen sterben heute. Wird das Kino dazu schweigen?“

Cannes hat gut daran getan, dem ukrainischen Präsidenten zur Eröffnung das Wort zu geben – anders als vor einigen Monaten die Academy bei der Oscar-Verleihung. Selenskyj zu offiziellen Empfängen einzuladen, fühlt sich in jüngster Zeit etwas kalkuliert an: Natürlich fällt da immer auch etwas Glanz und Ruhm auf die Gastgeber selbst zurück. Aber es gibt für den ehemaligen Schauspieler und Komiker auch kaum eine bessere Plattform, vor Kolleginnen und Kollegen, um an die Verantwortung der Weltöffentlichkeit zu appellieren. Stachel im Fleisch zu sein.

Auf Filmfestivals ist die Krim-Annexion seit Jahren präsent

Selenskyj spricht am Dienstag lange, fast zehn Minuten, und man muss es den Organisatoren lassen, dass sein Überraschungsauftritt dramaturgisch gut platziert ist. Auf den großen Festivals laufen seit Jahren Filme, die die Situation in der Ukraine nach der Krim-Annexion und dem Krieg im Osten immer wieder in Erinnerung gerufen haben. Aber wie mächtig ist das Kino heute tatsächlich noch? Selenskyj erinnert an Chaplins „Der große Diktator“: ein damals prophetischer Film, rückblickend geradezu naiv.

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Wo sind die Chaplins der Gegenwart, da die innere Stabilität Europas gerade wieder bedroht ist? Der Präsident dankt allen ukrainischen Filmschaffenden, vergisst dabei aber auch nicht die russischen Kolleg:innen, die seit Jahren staatlichen Repressalien ausgesetzt sind. Einer von ihnen, Kirill Serebrennikow, wird diese Woche seinen neuen Film an der Croisette vorstellen. Die Rede ist auch deswegen so eindrucksvoll, weil Selenskyj bei aller Kompromisslosigkeit zur Einigkeit gegen einen gemeinsamen Feind aufruft.

Doch wie kann nach dieser Rede der Übergang zum feierlichen Teil gelingen, noch dazu mit einer Meta-Zombiekomödie, die Gewalt für den komischen Effekt benutzt? Michel Hazanavicius' Eröffnungsfilm „Coupez!“ – sehr lustig, sehr blutig, aber auch ein großer Nonsens – wirkt nach dem Selenskyj-Auftritt umso befremdlicher. Doch das sind die Widersprüche, die man dieses Jahr zwischen Weltpolitik und Kunstkino wohl aushalten muss. Am Schluss bleibt Julianne Moore nur noch, das Festival offiziell zu eröffnen.

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