zum Hauptinhalt
Westliche Stereotypien und Vorurteile. Der gerade erst in den USA vom Markt genommene „Dr. Seuss“-Band „And to think that I saw it on Mulberry Street“.

© mauritius images / UPI / Alamy

Cancel Culture, Generation beleidigt: Die Freiheit der Kunst ist bedroht

Die Freiheit der Kunst erscheint nicht nur in autoritär geführten Staaten bedroht, sondern zunehmend auch in liberalen Demokratien.

Die Freiheit der Kunst ist bedroht oder beschädigt in vielen Regionen der Welt. Noch immer gilt dies für Diktaturen oder Staaten mit verstärkt autoritären Tendenzen, bis hin zum EU-Mitglied Ungarn unter Viktor Orbán. Längst aber mehren sich auch in den liberalen, weltanschaulich offenen Demokratien, vor allem Europas und Amerikas, die Konfliktfälle.

Und es zeigt sich, dass die in vielen Verfassungen – wie im Artikel 5 des Grundgesetzes – als Abwehr gegenüber Eingriffen des Staats formulierten Freiheitsrechte hier keine unmittelbare Schutzwirkung haben. Denn die neuen Konflikte entspringen keiner Konfrontation mit Staatsorganen, sondern rühren aus der zivilen Gesellschaft. Das geläufige Stichwort „Cancel Culture“, das den Beiklang auch von nur abgesagten Terminen, Flügen, Zügen hat, macht diese Zäsur für sich allein kaum deutlich.

Freiheit und Gleichheit sind spätestens seit der Französischen Revolution Inbegriffe jedes demokratischen Selbstverständnisses. Allerdings, wer im Geist der Gesetze normativ gleichgestellt ist, bleibt trotzdem faktisch oft ungleich. Besitzbürger waren und sind gleicher und freier als Besitzlose.

Deshalb folgten noch weitere Revolutionen, darum gab und gibt es, vereinfacht gesagt, Marxismus, Sozialdemokratie, unterschiedliche (bewusst ungleiche) Steuersätze oder mitunter Quoten, die beispielsweise Frauen im Berufsleben gerechter repräsentieren sollen.

Protest gegen tradierte Ungleichheit

In Nordamerika oder postkolonialen Gesellschaften fordern die Nachfahren der einstigen Sklaven und Ausgebeuteten auf vielen Feldern späte Genugtuung. In den USA gelten bei der Zulassung an Universitäten seit Langem Verteilungsschlüssel, die gesellschaftliche, ethnische Minderheiten im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit gegenüber der weißen Mehrheit bevorzugen.

An den legitimen Protest gegen tradierte Ungleichheit und die Diskriminierung schließen sich auch neuere identitäre Bewegungen an. Was sich als Aktionsbündnis für Gender- und Transgendergerechtigkeit, für Antirassismus oder Antikolonialismus versteht, ist erst mal nicht zu verwechseln mit jenen Identitären, die sich in Europa oder in den USA als Nationalisten und selbst erklärte „Patrioten“ auf eine weiße, christlich geprägte Majorität berufen und gegen islamische oder andere Migranten mobilmachen.

Allerdings zeigt etwa Michel Houellebecqs in vielem hellsichtiger Roman „Unterwerfung“, wie Identitätspolitik, wenn sie selbst zur Machtpolitik wird, zum gefährlichen Amalgam vermeintlicher Gegensätze werden kann. Wenn zwischen Rechts und Links die bürgerliche Mitte sich selbst verdünnt.

Wiederum aus Frankreich kommt das im vergangenen Jahr veröffentlichte Buch der Feministin und Filmemacherin Caroline Fourest, „Generation beleidigt“, dessen deutsche Übersetzung in der Berliner Edition Tiamat erschienen ist. Mit dem originalen Untertitel „Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer“ (Aus dem Französischen von Alexander Carstiuc, Mark Feldon und Christoph Hesse 143 Seiten, 18 Euro).

Cancel Culture im Literaturbetrieb

Die Autorin war Mitarbeiterin auch von „Charlie Hebdo“, sie publiziert und lehrt zu Fragen des Multikulturalismus und universellen Menschenrechten. An zahllosen konkreten, oft selbst erlebten Fällen in Europa und Nordamerika schildert sie, wie Wissenschaftler und Autoren jeden Geschlechts ebenso wie Künstlerinnen und Künstler und ihre Werke bedrängt und abgecancelt werden: weil es für reale oder vermeintliche „Opfergruppen“ verletzend sei, wenn sich andere zu deren Themen äußern und sie sich so gleichsam neokolonial „anverwandeln“.

Versuche der Inklusion werden so im Gestus offensiver Exklusion abgewiesen. Muslimische Studentinnen zum Beispiel verweigerten Caroline Fourest, weiß, lesbisch, jüdisch, das Recht, mit ihnen über politischen Islamismus zu sprechen.

Andernorts gerät das Cancel-CultureThema scheinbar zur Posse. So hat der Hamburger Carlsen Verlag, der unter anderen auch die wegen einer Meinungsäußerung zu Überspitzungen der Gendersprache heftig angegriffene britische Schriftstellerin Joanne K. Rowling verlegt, jetzt das Kinderbuch „Ein Corona-Regenbogen für Anna und Moritz“ zurückgezogen. In einer neuen Auflage soll ein Satz gestrichen werden, den der fiktive Grundschüler Moritz sagt: „Das Virus kommt aus China und hat sich von dort auf der ganzen Welt ausgebreitet.“

Ein Kindersatz über China wird gestrichen

Nachdem ein chinesisches Nachrichtenportal, gedankenpolizeilich beleidigt, die Aussage des kleinen Moritz als „böswillig“ gerügt und ein paar Leser sich besorgt gezeigt hätten über diesen wohl von fast allen Virologen bekräftigten Kindersatz, hat der Verlag reagiert. Als habe man Ressentiments gegen China und gegen chinesische Kinder geschürt, bat Carlsen um Entschuldigung, falls sich Menschen „durch die Formulierung in ihren Gefühlen verletzt fühlen sollten“.

Fast unfreiwillig komisch wirkt da im Nachhinein, dass der Carlsen Verlag vor fünf Jahren bei der Frankfurter Buchmesse für sein Marketing den renommierten „Virenschleuder-Preis“ erhielt. Erst danach wurde die Auszeichnung in „Orbanism Award“ umbenannt.

Zensur des Comics „Dr. Seuss“

China ist eine Macht. Natürlich spielt das auch eine Rolle, wenn in den USA die Firma Dr. Seuss Enterprises mehrere Titel ihrer jahrzehntelang beliebtesten Bilderbücher vom Markt nimmt. Es geht um die weltweit in dreistelliger Millionenauflage gelesene „Dr. Seuss“-Serie, mit welcher der 1991 verstorbene amerikanische Cartoonist und Kinderbuchautor Theodor „Seuss“ Geisel jahrzehntelang kleine und größere Leser bezaubert hat.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Wie Andreas Platthaus in der „FAZ“ berichtet hat, trifft die posthume Zensur auch den 1937 erschienen ersten „Dr. Seuss“-Band „And to think that I saw it on Mulberry Street“. Darin findet sich die kindliche Vision, wie aus einem vorbeifahrenden Pferdefuhrwerk eine zirzensische Straßenparade mit allerlei lustigen Gestalten wird, darunter: „A Chinaman who eats with sticks... / A big Magician doing tricks ...“

Es ist einer von knapp hundert Versen, und in der bunten Bildergalerie im kunstvoll naiven wie zugleich expressiven Zeichenstil der zwanziger und dreißiger Jahre läuft auch ein freundlich lachender Chinese in andeutungsweise traditionellem Kostüm mit Spitzhut und einer Schale Reis samt Essstäbchen über die figurenreich illustrierte Seite.

Das Buch, wie gesagt, ist aus dem Jahr 1937, der Autor war ein entschieden kosmopolitischer Humanist, doch der kleine Chinese, der natürlich nicht aussieht wie ein heutiger Shenzhen-Manager, soll in verletzender Weise westliche Stereotypen und Vorurteile verkörpern?

Die Echtheit der Theaterleute

Schwerer wiegt, dass die holländische Poetin und Booker-Prize-Trägerin Marieke Lucas Rijneveld vor ein paar Tagen den Auftrag zurückgegeben hat, Amanda Gormans seit der Inaugurationsfeier für Joe Biden weltberühmtes Gedicht „The Hill We Climb“ ins Niederländische zu übersetzen. Auch ein Verlag in Barcelona hat nun seinen (weißen) Übersetzer zurückgezogen.

Im ersten Fall hatte die junge schwarze Dichterin ihre nur unwesentlich ältere weiße Kollegin Rijneveld als Übersetzerin ausdrücklich begrüßt. Trotzdem machte eine identitäre Aktivistin mit entsprechender Mobilisierung im Internet es quasi zum Skandal, dass eine weiße Person, die sich auch noch als sexuell doppelgeschlechtlich definiere, diesen Text einer schwarzen Frau übersetze.

Freies Spiel

Seit Jahren läuft schon die Debatte darüber, ob ein weißhäutiger Mensch einen dunkelhäutigen Menschen im Theater spielen dürfe. Stichwort „Blackfacing“. Eigentlich ist die Grundfrage obsolet, weil Theater wie überhaupt alle Kunst symbolische Verwandlung, Verdichtung, Steigerung bedeutet. Fiktion und nicht naturalistische Imitation. Menschen spielen seit jeher auch Götter oder Tiere, Kinder spielen Erwachsene und umgekehrt, Frauen stellen Männer dar und diese auch Frauen. Niemand erwartet auf der Bühne oder im Film echte Mörder, Tyrannen, Wahnsinnige, Über- und Außerirdische.

Es geht um Fiktion, um das freie Spiel der Kunst. Trotzdem haben sich viele Theater, die eben noch postdramatisch jede identifikatorische schauspielerische Darstellung abgelehnt haben, die „Blackfacing“-Debatte und identitäre Positionen aufdrängen lassen und erklären sie jetzt zu ihrem eigenen Beitrag für mehr Diversität.

Die Berliner Romanautorin und Übersetzerin Pieke Biermann, eine Weiße, wurde bei der Leipziger Buchmesse 2020 für ihre poetische und zahllose Unter- und Obertöne empathisch treffende Übertragung des Romans „Oreo“ der afroamerikanischen Schriftstellerin Fran Ross ausgezeichnet. Sie sagt nun dem Tagesspiegel: „Übersetzen ist eine mimetische Kunstform. Anverwandlung. Dafür muss ich ,jemand anderes‘ sein, gerade nicht irgendwie ,identisch. Ich übersetze auch am liebsten ,Unmögliches‘, und das ist immer ein Risiko. Zum Glück!“

„Übersetzen ist immer ein Risiko“

Arthur Rimbaud bekannte „Ich ist ein Anderer“, Gustave Flaubert sagte „Madame Bovary, c’est moi“. Der schwarze schwule Schriftsteller James Baldwin war im Schreiben universell, weiß, hetero, trans. Wie der weiße schwule Jean Genet zugleich ein schwarzer universeller Schriftsteller war. Und Virginia Woolfs Kunst alle Geschlechter spiegeln konnte.

Künstlerische Fiktion ist in ihren Verwandlungen, Provokationen und Mehrdeutigkeiten auch der Widerspruch gegen das, was sich die Einäugigen nicht träumen lassen. Was die Sprach- und Gedankenpolizei, ob staatliche oder innergesellschaftliche, selbst im Traum nicht zulassen will.

Identitäre Forderungen im Bereich der Kunst sind daher meist kunstfremd oder kunstfeindlich. Es geht ihnen um Symbolpolitik: um die politische Definitionsmacht. Dies allerdings in Freiräumen, um die sie die in Diktaturen und Kriegsgebieten von weit mehr als bloß symbolischer Gewalt betroffenen Menschen jeder Identität nur beneiden können.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false