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Die Realität sah anders aus: Das Bukarest des Jahres 1942 auf einer Postkarte mit Blumenfrau.

© imago/Arkivi

Bukarester Sittenbild: Wie der Schmutzrand einer Badewanne

Mit „Die gefallene Stadt“ erscheint auch der zweite Teil von Olivia Mannings Balkantrilogie in einer Neuübersetzung. Eine Entdeckung.

Olivia Mannings Roman „Der größte Reichtum“ erschien 1960 als Auftakt ihrer Balkan-Trilogie, die sie später noch um die Levante-Trilogie erweiterte. Der Schriftsteller Anthony Burgess rühmte diese Bücher als „bestes literarisches Dokument des Zweiten Weltkrieges“, das in Großbritannien geschrieben worden sei.

Ein starkes Lob – dennoch fühlte sich die 1908 in Portsmouth geborene Manning verkannt. Die offenbar regelmäßigen Klagen darüber brachten ihr den Spitznamen „Olivia Moaning“ ein. Nach einem Studium der Malerei veröffentlichte sie ihre ersten Bücher unter einem männlichen Pseudonym. Im Herbst 1939 zog sie mit ihrem Ehemann Reggie Smith nach Bukarest und verbrachte die Jahre des Zweiten Weltkriegs in verschiedenen Ländern des Balkans, des Nahen Ostens und Nordafrikas.

Die Erlebnisse dieser Zeit bilden den Hintergrund der beiden Kriegstrilogien. Sie erzählen von einem britischen Expat-Paar, das vom Zweiten Weltkrieg und der vorrückenden Wehrmacht an den östlichen Rand Europas getrieben wird und darüber hinaus: erst nach Rumänien, dann nach Athen, Istanbul, Kairo und Alexandria.

Harriet Pringle, Mannings autobiographisch angelegte Hauptfigur, ist allerdings keine Schriftstellerin, sondern die Begleiterin ihres Mannes Guy, der als Sprachdozent und Anglist an der Universität von Bukarest arbeitet. Sein Vorbild ist Reggie Smith, der nach dem Krieg als Radioproduzent und vermutlicher kommunistischer Spion selbst einige Berühmtheit erlangte. Im Roman lernen wir Guy als unbekümmerten, Charme versprühenden jungen Mann kennen, immer mit einen Stapel Bücher unterm Arm, ein politischer Idealist mit einem festen Glauben an den Sozialismus und all das Gute, das von der Sowjetunion zu erwarten sei.

Die britische Kolonie Bukarests ist eine Männerwelt

Es ist eine Männerwelt, die Manning schildert, aber das ist der damaligen Realität geschuldet: Die britische Kolonie in Bukarest – Journalisten, Diplomaten, Kulturbeauftragte, Abenteurer – besteht größtenteils aus Männern; sofern sie Ehefrauen haben, sind diese wegen der gefährlichen Lage heimgekehrt nach England.

Harriet aber will auf keinen Fall zurück und bricht auf diese Weise mit den Konventionen. Die Bar im Hotel Athénée Palace ist der Treffpunkt der Expats - bis sich dort die Deutschen breit machen. Auch in Bukarest, noch fern von den Fronten, wächst die Gereiztheit und Feindseligkeit. Kleine Stellvertreterkriege werden mit Worten, Gesten und Symbolen ausgefochten.

Die schillerndste und skurrilste Figur des Roman-Zyklus ist Jakimov. Er rühmt sich einer altadeligen Herkunft, wurde jedoch wegen seiner notorischen Schnorrerei aus allen Hauptstädten Westeuropas „hinausgejagt“ und ist in Bukarest gestrandet. Wenn er mit Freunden in guten Restaurants seiner Gefräßigkeit frönt, mischt sich in diese Szenen ein Aroma von Melancholie, denn Jakimov weiß, dass am Ende des Genusses die Offenbarung seiner Zahlungsunfähigkeit steht. Meist überlässt der liebenswürdige Hochstapler die Rechnung dann denjenigen, die er eingeladen hat. Jakimov zahlt mit Anekdoten und Geschichten.

Realität kollidiert mit folkloristischer Reiseliteratur

Der zweite Band „Die gefallene Stadt“ schildert, wie die Eiserne Garde – die zuvor verbotene faschistische Organisation Rumäniens – wieder an Einfluss gewinnt und eine Atmosphäre des Terrors verbreitet. Die Stimmung in Bukarest kippt, und das Ansehen der Briten sinkt. Zwar hat England Rumäniens Sicherheit garantiert, aber das hat ja schon in Polen nicht geklappt. Durch den Blitzkrieg gegen Frankreich im Frühsommer 1940 wachsen die Sympathien mit den siegreichen Deutschen.

Schließlich entwickelt sich Rumänien selbst zu einer mit den Achsenmächten kooperierenden Militärdiktatur. Für die Expats wird die Situation deshalb immer gefährlicher. Ein Schlägertrupp verwüstet das kleine britische Propaganda-Büro, und auch die Wohnung der Pringles, wo Guy einen jüdischen Schüler versteckt hält, wird von einem Rollkommando heimgesucht.

Den Schauplatz Rumänien beschreibt Manning sehr atmosphärisch, wenn auch mit gemischten Gefühlen. Korruption ist verbreitet, einige Neureiche schwelgen in geschmacksunsicherem Wohlstand, ansonsten herrscht Elend. Die Familien der zwangsrekrutierten Bauern fliehen vor dem Hunger und der Winterkälte in die Stadt, wo viele auf den Straßen erfrieren. Harriet fühlt sich fremd in Bukarest; das prägt die Perspektive. Nicht gewöhnen kann sie sich an die Zudringlichkeit der Bettler.

Nur weil eine fremde Kultur mit einer gewissen Abneigung dargestellt wird, heißt das aber noch nicht, dass die Autorin einer fahrlässigen Konstruktion von „Otherness“ auf den Leim gegangen wäre. Vielmehr besteht Harriets Problem gerade darin, dass ihre rumänische Realität kollidiert mit einer folkloristischen „Konstruktion des Anderen“ in den Reisebüchern, die sie zuvor gelesen hat.

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Dort war vom exotischen, lebensfreudigen Balkan mit gastfreundlichen Menschen und tanzenden Bauern die Rede. Dass die vielen Bettler Harriet so irritieren, liegt auch daran, dass sie sie an ihre eigene Entwurzelung erinnern. Der optimistische Guy ist scheinbar überall zuhause, die melancholische Harriet nirgends.

Der Ton besitzt eine britische Leichtigkeit

Bisher gab es nur eine erheblich gekürzte Übersetzung der Balkan-Trilogie. Sie wurde vermarktet als Buch zur britischen Fernsehserie von 1987, mit Emma Thompson und Kenneth Branagh in den Hauptrollen. Deshalb sind die Reize von Mannings Romanen für deutsche Leser nun erst dank der geschmeidigen Übersetzung von Silke Jellinghaus zu entdecken: interessante, komplex gezeichnete Charaktere in Verbindung mit einem spannenden historischen Thema, dem eskalierenden Zweiten Weltkrieg, dargestellt aus ungewöhnlicher Perspektive.

(Olivia Manning: Die gefallene Stadt. Roman. Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus. Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2021, 464 Seiten, 24 €.)

Bemerkenswert ist, dass Manning das Sepiadunkle meidet, das Romane und Filme über jene Zeit oft kennzeichnet. Sie vertraut stattdessen auf die gewisse britische Leichtigkeit und trifft damit zumindest das Lebensgefühl ihrer Figuren besser. Treffend sind viele sprachliche Bilder des Romans. Da ist die Luft „pelzig vor Hitze“ oder ein zwielichtiges Lächeln umspielt einen Mund wie „der Schmutzrand einer Badewanne“.

Allerdings erweisen sich viele Figuren ungeachtet des entspannten Erzähltons als problematische und defizitäre Charaktere, allen voran Jakimov mit seinem kindlichen Egoismus und seinem unersättlichen Hunger. Harriet fühlt sich von Guy öfter im Stich gelassen: „Er war ein Mann, der niemals da sein konnte, wenn er gebraucht wurde“. Nimmt man Guy als Porträt von Mannings Ehemann Reggie Smith, dann war das prophetisch geurteilt. Als die Schriftstellerin nach einem Schlaganfall 1980 auf der Isle of Wight im Sterben lag, schaffte es Smith während zwanzig Tagen nicht, zu ihr zu kommen.

Er gab vor, in London beschäftigt zu sein. Das ist die dunkle Seite der sozialen Umtriebigkeit. Am Ende des zweiten Bandes lässt Guy Harriet aus dem „gefallenen“ Bukarest allein nach Athen weiterfliegen. Dort trifft sie einen alten Bekannten wieder: Jakimov. Dem Lebenskünstler nützt seine Mischung aus Naivität und Schläue im demnächst erscheinenden dritten Band allerdings wenig. Eine Zigarette wird ihm zum Verhängnis.

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