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Menschen, die zur Evakuierung ein Militärflugzeug A400 der spanischen Luftwaffe auf dem Flughafen von Kabul besteigen.

© Spanish Defence Ministry/dpa

Bürokratie in der Afghanistankrise: Wo Listen regieren, hat die Humanität längst verloren

Todes- oder Evakuierungsliste? In Afghanistan hängt das Leben von Menschen davon ab, auf welchem Dokument ihr Name erscheint. Ein Kommentar.

Während Talibankämpfer in Kabul mit Todeslisten von Haus zu Haus ziehen und ihre Opfer suchen, bestimmen tabellarische Aufstellungen darüber, ob die Bundeswehr afghanische Staatsbürger vor den Islamisten rettet. Das Leben von Menschen hängt davon ab, auf welchem Dokument ihr Name erscheint.

In sozialen Netzwerken kursiert eine Gegenüberstellung zweier Bilder von den Evakuierungsmaßnahmen aus Kabul. Auf dem einen Foto sitzen 640 Menschen im Innenraum einer Transportmaschine der US-Luftwaffe. Sie standen auf keiner Liste, hatten sich aber panisch ins Flugzeug geflüchtet. Die Besatzung entschied abzufliegen, statt die Menschen wieder von Bord zu zwingen. Ein Akt spontaner Humanität.

Die andere Aufnahme entstand an Bord einer A400M der Bundeswehr bei ihrem ersten Evakuierungsflug am Montag. Lediglich sieben Menschen sitzen in einem gähnend leeren Innenraum. Das es nicht mehr waren, lag wohl auch an bürokratischen Hürden. „Selbst in der größten Not hält die Bundesregierung am Listenwesen fest“, kritisierte die Linken-Parteichefin Janine Wissler.

Nur wer eine Nummer hat, darf einsteigen

Tatsächlich werden nur diejenigen, die mit einer Kennnummer auf einer Liste des Auswärtigen Amtes stehen, in ein Flugzeug gelassen, bestätigte ein Sprecher des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr. CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet unterstrich am Mittwoch: „Ich werde als Bundeskanzler eine Garantie abgeben, dass jeder, der sich auf diesen Namenslisten befindet, der sich für Deutschland engagiert hat, in Deutschland Aufnahme findet.“

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Listen helfen dem Menschen bei der Komplexitätsreduktion. Das kann jeder bestätigen, der mal ohne Einkaufszettel im Supermarkt war. In Katastrophenfällen und humanitären Notlagen lassen sich mit Hilfe von tabellarischen Daten die gefährdetsten Personen identifizieren. Doch Grauen und Segen lagen meist dicht beieinander. Oskar Schindler bewahrte mit seiner Liste 1200 Menschen vor dem Tod, zuvor aber hatten die Nazis KZ–Insassen auf nummerierbares Material reduziert. Wo der Einzelne von der bürokratischen Apparatur verschlungen wird, büßt er als rein abstrakte Größe sein Menschsein ein.

Umberto Eco versuchte sich in seinem Werk „Die unendliche Liste“ an einer Kulturgeschichte der tabellarischen Obsession von Homer bis Google. Listen, so führt der italienische Schriftsteller aus, seien der Ursprung der Kultur, weil sie versuchten, die Unendlichkeit fassbar zu machen und das Unbegreifliche zu ordnen. Sie seien ein Ausweis für eine fortschrittliche und kultivierte Gesellschaft. „Wir mögen Listen, weil wir nicht gern sterben wollen“, führt Eco aus. Selten klang der Satz zynischer als in diesen Tagen. Wo Listen regieren, hat die Humanität längst verloren.

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