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© ddp

Oberammergau: Der Deal mit Gott

Jetzt proben sie wieder. Und im Mai ist Premiere. Oberammergau rüstet sich fürs Passionsspektakel. Politischer soll in diesem Jahr alles werden. Manche murren deshalb. Dabei sind sie trotzdem

Rührt euch, rührt euch, ruft Christian Stückl und rudert mit den Armen. Ich will Bewegung, Bewegung! Schwerfällig kommen die Judäer, Römer und Galiläer in Gang. Der Mahlstrom aus Menschen folgt einer nicht zu durchschauenden Choreografie. Priester, Soldaten, Jünger, Volk. Ehrwürdige Greise im Trachtenjanker, kichernde Kinder in Pink.

800 Oberammergauer laufen bei der größten ersten Volksprobe auf der klirrekalten Freilichtbühne im Passionstheater durcheinander. Vor sich Atemwölkchen, 5000 leere Sitzplätze und den mit den Armen rudernden Spielleiter. Hinter sich zehn Jahre Warten und ein 377 Jahre altes Geschäft. Ein Deal mit Gott, der dem oberbayerischen Flecken im Landkreis Garmisch-Partenkirchen durch die Jahrhunderte den Ruf des wichtigsten Passionsspielortes der Welt beschert hat.

Mitte Mai geht es wieder los mit der Passion, dem Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Eine halbe Million Menschen kommen deswegen her. Aus Amerika, Australien oder Afrika. 102 Vorstellungen spielen die Laien bis Anfang Oktober. Jede fünfeinhalb Stunden lang. Knapp 2500 der gut 5000 Oberammergauer sind dabei. Jeder zweite. Als Darsteller, Chor, Orchester, Solisten, Kulissenbauer, Kostümbildner oder Feuerwehrleute – das Dorf Gottes stemmt so gut wie alles aus eigener Kraft. Mitmachen darf nur, wer 20 Jahre in diesem Winteridyll aus Gipfeln, Höfen, Lüftlmalerei, Gasthäusern und Souvenirläden ansässig oder besser gleich hier geboren ist.

So wie Otto Huber. Herbergsvater, Oberstudienrat, Dramaturg und Chronist der Passionsspiele. Oberammergau liegt auf 850 Metern. „Selbe Höhe wie Jerusalem“, lacht er. Wenn das kein Zeichen ist. In jedem Raum der Herberge hängt ein handgeschnitztes Kruzifix. Und überall Fotos: eine Ahnengalerie der Hubers von gestern und heute in ihrem Passionsspielstaat. Wildwuchs umrankt Otto Hubers bebrilltes Knittergesicht. Seit Aschermittwoch vergangenen Jahres gilt Haar- und Barterlass, kein Passionsspieler darf zum Friseur. Oberammergauer Rekruten genehmigt die Bundeswehr lange Haare und Bärte per Sondererlaubnis.

Huber selbst spricht wieder mal den Prolog. Schon als Junge war er bei der Passion dabei, zum ersten Mal 1950. „Ich wollte drin sein, weil alle drin sind“, sagt er. Das ist der meistgesprochene Satz im Dorf. „Und weil ich große Lust am Spielen habe.“ Der ist am dritthäufigsten zu hören. Dazwischen rangiert die gewichtige, jahrhundertealte Spieltradition. Die bindet auch jene säkularen Seelen, denen das im April feierlich mit Prozession, Weihbischof und Ministerpräsident erneuerte Pestgelübde von 1633 schnurz ist.

Bei Huber ist das nicht der Fall. Er ist Zweifler und Glaubender zugleich, katholisch sowieso.

Zwei Tote hat die große Pest seine Familie mütterlicherseits gekostet, mehr als 80 das ganze Dorf. Damals flehten die frommen Herrgottsschnitzer, Händler und Bauern den Höchsten um Beistand an und boten ihm im Gegenzug ein Passionsspiel. Gott nahm das Geschäft an. Das Sterben hörte auf. Und seit 1634 wird in Oberammergau regelmäßig Passion gespielt.

„Geh her, Jesus!“, kommandiert Spielleiter Stückl und greift sich einen Bärtigen um die 30. Im 1930 erbauten Passionstheater, einer tiefgekühlten monumentalen Scheune, trägt selbst der Sohn Gottes bei der Probe eine rote Pudelmütze. Hosianna brüllt das Volk von Jerusalem zum triumphalen Einzug von Jesus. Das ist die Eingangsszene des fünf biblische Tage erzählenden Spiels. 150 Kinder preisen den Herrn. Das war nix, ruft Christian Stückl, traut euch, traut euch! Hosianna, donnern Kinder und Erwachsene über die Bühne.

Wir-Gefühl, Geplapper, verfrorene Mienen. Wer hier stundenlang in der Kälte bibbert, meint es ernst mit der Passion, auch wenn sie durch Probengeld versüßt wird. Seit November üben die Darsteller, die Musiker seit Oktober, an den 2000 Kostümen schneidern Oberammergauerinnen seit Juni. Bis Mai ist jeden Abend Probe, am Wochenende schon nachmittags. Dann beginnt das Spektakel. Ein Jahr lang ist die Passion der Herzschlag des Dorfes, sein Portemonnaie ist es sowieso. Was einst als Gelübde begann, ist längst der große Reibach. Aus dem Deal mit Gott hat Oberammergau ein Geschäft gemacht.

Ein knorriger Alter im grünen Loden ist 85 und war 1930 erstmals beim frommen Spiel dabei. Höherer Passionsadel also. Er gehört zu den Darstellern der jüdischen Priesterkaste, des Hohen Rats. Beseelt und dankbar ist der Alte, noch mitspielen zu können. „Wegen des Gelübdes, und weil’s dazu gehört.“

Ihr seid unsere Väter! Für eure Ehre stehen wir ein!, brüllt das Probenvolk dem Hohen Rat zu. Wo die anderen erst vorglühen, brennt Regisseur Stückl schon lichterloh. Nur er rennt ohne Schal und Mütze auf der 50 Meter breiten Bühne herum.

Der Intendant des Münchener Volkstheaters, 1961 geboren, wohnhaft und zum Holzbildhauer ausgebildet in Oberammergau, inszeniert jetzt seine dritte Passion. Nicht als Christi Leidensshow, sondern als ein modern aufgefasstes Passionsspiel. Gespielt von Laien, die sich nach Kräften professionalisieren sollen. Durch Textarbeit, Stimmbildung, Proben. Mit den Hauptdarstellern reiste er zur Vorbereitung nach Israel. Beginn einer ernsten Auseinandersetzung mit den biblischen Figuren.

80 der 102 Vorstellungen mitzuspielen ist für die Mitspieler Pflicht. „Eigentlich will ich hundert Prozent, da müssen’s schon wenigstens 80 sein.“ Manche im Dorf murren darüber. Wie über vieles, was der Stückl macht. Junge Leute besetzen, Text, Bühnenbild und Kostüme modernisieren, die Kunst was kosten lassen, das Spiel trotz Protesten von Gastronomen in den Abend verlegen, Jesus als Juden zeigen.

Mit Otto Huber, einem Theologen und drei Rabbinern vom American Jewish Committee und der Anti-Defamation League hat Stückl wieder wochenlang überm Textbuch gesessen und Antijudaismen ausgekehrt. Die hatten weiland Adolf Hitler und anderen Besuchern im alten Passionsspiel gut gefallen. Inzwischen sind die Rabbiner mit dem Oberammergauer Text, der Jesus auch mal Hebräisch sprechen lässt, ganz zufrieden.

„Was wir gerade sind, das ist auch die Passion“, sagt Stückl. Frommer wenn die Zeiten fromm sind, weltlicher wenn sie weltlich sind. Das macht, dass bei jedem Mitspieler auf die Frage „Wie hältst du’s mit der Religion?“ die Alarmglocken schrillen. Besonders bei den Jungen. Alles wollen sie sein, bloß keine religiösen Eiferer. Wohl aber Leute, die Lebensstationen nach Passionsspieljahren rastern und sich im Gemeinderat über Bibelsätze fetzen.

Ich fordere euch auf! Rettet unser heiliges Gesetz, ruft Nathanel, der Scharfmacher wider Jesus in Jeans und Winterjacke, dem Volk bei der Massenszene zu. Und dann: Der Nazarener soll sterben! Da wird aus den braven Bürgern im Passionstheater ein manipulierter Mob. Er sterbe, er sterbe, dröhnt es heiß durch den Frost. 800 Kehlen und eine Gänsehaut. Stückl schaut zufrieden auf sein Volk.

Die Hauptrolle des fiesen Hohen Rates Nathanael zu spielen gefällt Simon Fischer. „2000 war ich als lieber Jünger Johannes ja mehr so auf der weinerlichen Schiene“, lacht er. Und erzählt dann von seiner Verantwortung für Rolle und Stück. Es sei nun mal nicht irgendeins. Und auf den 5000 Stühlen säßen nicht nur Touristen, sondern auch Tiefgläubige. Das verlange Respekt.

Kein Urlaub vor Oktober und einige Aufträge sausen lassen ist ein geringer Preis für diesen Kick. Sonst Schreiner, jetzt auf der Showbühne. Simon Fischer ist 27 Jahre alt und Bühnenbauer in München beim Film. Trotzdem lebt er weiter in Oberammergau. So wie viele junge Pendler, die durch die Passion zum Theater oder Film kommen.

Simon Fischers Sohn ist drei und läuft im Volk mit. Wie jedes Kind, sobald es laufen kann. Die Frau singt im hundertköpfigen Chor. Der Vater ist ein in Hauptrollen erprobter Graukopf. Er spielt Nathanaels Gegner und Jesu Freund, den Josef von Arimathäa. Vater und Sohn liefern sich einen Bühnenkonflikt. Privat herrscht Harmonie in der Darstellerdynastie. Das ist nicht immer so. Der Deal mit Gott schlägt manchmal auch Wunden. Die verletzter Egos und gekränkter Eitelkeit.

Früher, erzählt Walter Fischer, habe man den Darsteller des Jesus-Verräters Judas im Dorf schief angesehen. Aber das sei lange vorbei. Inzwischen ist Judas ein Politrevoluzzer und mehrt als zerrissener Charakter den Ruhm seiner Darsteller.

Den Fehler, das Spiel mit dem Leben zu verwechseln, machen die Dörfler trotzdem noch immer. Besonders wenn’s ums Streiten geht. Da entlädt sich die von klein auf geschulte Bühnenpräsenz in raumgreifenden Debatten, seufzt Bürgermeister Arno Nunn. Immer geht’s um die Passion. Wie soll sie werden? Wie muss sie bleiben? Das treibt sie um mit Herzblut und Galle. Regelmäßig setzt es Bürgerentscheide. Zum Text und Musik der Passion, zur Spielleiterwahl, zu Umbauten im Theater und den letzten 2007 zum von Stückl gewünschten Abendspiel.

32 Millionen kosten die Spiele diesmal. Das bringt die hoch verschuldete Gemeinde nur mit einer Bürgschaft des Freistaats Bayern auf. Immerhin: 170 000 Einzelkarten von 50 bis 165 Euro sind schon weg. Wichtiger sind allerdings die mit Übernachtungen kombinierten Eintrittskarten, über 300 000 Stück. 90 Prozent der 200 bis 839 Euro teuren Tickets haben Reiseveranstalter geordert. Ob sie angesichts finanzklammer Amerikaner – mit 60 Prozent sonst größte Fangemeinde – tatsächlich verkauft sind, ist offen.

Ja mei, die Passion wird’s schon richten, hoffen die an frühere fette Touristenjahre und ein ausverkauftes Theater gewöhnten Dörfler. Jahrzehntelang war Geld da, und die Gemeinde hat es ausgegeben. Für Skilifte, Spaßbad, üppige Infrastruktur. Verdient wird mit der Passion nur im zehnten Jahr, kosten tut sie auch die anderen neun. Und Touristen kommen in der spielfreien Zeit immer weniger.

Heil dir, heil dir, oh Davids Sohn! Der Väter Thron gebühret dir! Die Kinder proben den Einzugschoral, Oberammergaus heimliche Hymne. Lauter, ruft Christian Stückl. Die warm eingepackten Kleinen und coolen Teenager singen. Eltern und Großeltern bewegen die Lippen mit. Mancher Alte lässt sich am Sterbebett dies Lied singen, bevor der Tod ihn holen darf.

Alle wollen drin sein im Spiel, sagt Otto Huber, auch die Türken. Der Spielleiter selbst hat einen muslimischen Vater um die zuerst verweigerte Spielerlaubnis für seinen Sohn gebeten. Soll er mitspielen, hat der Türke schließlich zu Stückl gesagt, aber mach ihn mir nicht katholisch.

Erst Team, Tradition, Theater, dann die Religion und das Geld. So sind die Oberammergauer, so ist die Passion. Oder anders herum. Der Holzbildhauer, der mit Bauch und blauer Schürze in seinem Laden steht, ist einer von 80 Herrgottsschnitzern im Dorf. Früher waren es mal 300. Er hat den Deal mit Gott gekündigt, obwohl es ihn zur Einhaltung drängt. „Ich will doch mein Gelübde erfüllen.“ Mitspielen aber geht diesmal nicht. Zu viel Neuerungen bringt ihm der Stückl ins Spiel. Die zwölf Miniszenen aus dem Alten Testament, lebende Bilder genannt, seien zu farbig. Die Spieldauer bis in den Abend zerstöre das Familienleben. Überhaupt: Die Passion solle eine Art Wallfahrt zur Auffrischung des Glaubens sein und kein Spektakel mit Hotelarrangements. Er selbst lebt nicht schlecht vom Passionskommerz.

Chronist Otto Huber lächelt darüber. Nur ständige Veränderung, Verbesserung, die dauernde Arbeit am Spiel, dem Text, der Musik, und die Lust, es immer neu zu gestalten, machten aus Oberammergau ein Modellspiel, sagt er.

300 Passionsspiele gab es im 17. Jahrhundert im Alpenland. Nur ein Dutzend davon hat überlebt. Oberammergau profitierte von gelehrten Textschreibern in den nahen Klöstern Ettal und Rottenbuch, der örtlichen Handwerkskunst und der künstlerischen Vision. Kein anderes Passionsspiel der Welt hat diese Strahlkraft.

Die beeindruckte den bayerischen König so, dass er den Oberammergauern 1875 eine Kreuzigungsgruppe verehrte. Fromm grüßt sie von einer Bergeshöhe ins Ammertal hinunter. Kristalline Luft, harscher Schnee, edler Marmor und eine Inschrift in goldenen Lettern: den kunstsinnigen und den Sitten der Väter treuen Oberammergauern von König Ludwig II. zur Erinnerung an die Passionsspiele.

Drei Probentage mit 1550 Menschen, und nie klingelt ein Handy. Das muss Hingabe sein. Plötzlich rappelt doch eins. Alles schaut strafend. Bergwacht-Alarm, ruft der Junghippie im Snowboarderlook mit schuldbewusster Miene.

Kreuziget ihn, kreuziget ihn, schreit das Volk. Grausig klingt das. Nach Ernst, nicht nach Spiel. Atemfahnen stehen wie Ausrufezeichen in der Luft. Mehr, mehr, da geht mehr, ruft Christian Stückl. Erwischen will er die Menschen mit seiner Passion. Erbauen, meint Simon Fischer. Trösten, sagt Otto Huber.

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