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Jule Böwe

© Gunnar Geller

Bühne: Das Gesicht der Gegenwart

Niemand vereint das Schroffe und das Sanfte wie Jule Böwe. Nun ist sie in Luk Percevals "Anatol“ zu sehen.

Jule Böwe bringt ein Tablett mit kaltem Hund zum Gespräch mit. Es ist ihr Lieblingskuchen, er erinnert sie an Kindergeburtstage, und sie braucht ihn immer, wenn es ihr schlecht geht. Wenn es ihr gut geht, allerdings auch.

Böwe erzählt das lachend. Momentan fühlt sie sich weder besonders schlecht noch wirklich gut. Angespannt ist sie, was Freunde daran bemerken könnten, dass sie noch mehr raucht als sonst. Die Premiere von Schnitzlers „Anatol“ an der Schaubühne rückt näher, Jule Böwe spielt in Luk Percevals geschlechterverkehrter Inszenierung die Hauptrolle, die „Ana“, wie sie sagt, und nun setzt die berufsbedingte Phase des Zweifels und der Furcht ein. Hat sie die Figur in allen Facetten durchdrungen, steht sie mit beiden Beinen auf den Brettern? Böwe sagt: „Angst ist ein Motor für mich.“ Sie sagt auch: „Natürlich kokettiere ich inzwischen ein bisschen mit dieser Ängstlichkeit in der Arbeit. Inzwischen!“

Schnitzlers Anatol hat Angst. Betrogen zu werden, sich zu binden, einsam zu sein. Er verspüre den starken Drang, frei zu sein, glaubt Böwe, „aber diese Freiheit ist zugleich sein Käfig“. Klingt nicht so, als habe sie es sich mit der Durchdringung der Figur leicht gemacht.

Es ist genau zehn Jahre her, dass Jule Böwe von der Zeitschrift „Theater heute“ zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres gewählt wurde. Damals spielte sie die Lulu in Thomas Ostermeiers Ravenhill-Inszenierung „Shoppen & Ficken“ an der Baracke des Deutschen Theaters. „Die passende Rolle zur passenden Zeit mit dem passenden Regisseur“, sagt sie, es stimmte alles.

Wenn man sie fragt, ob es ein Gründungsmythos der eigenen Theaterexistenz sei, dass sie zuvor an etlichen Schauspielschulen abblitzte, schaut sie regelrecht beleidigt: Nein, das sei tatsächlich so gewesen. Sie ging ein Jahr auf eine private Schule, die sie bis auf einen Lehrer furchtbar fand, danach lernte sie das Handwerk in der freien Szene, übernahm auch Beleuchtung oder Regieassistenz, und ihre erste große Rolle bekam sie in der Berliner Off-Bühne Schokoladen, in „Magic Afternoon“. Nach „Shoppen & Ficken“ riefen dann die großen Theater reihenweise bei ihr an. Sie habe ernsthaft verwirrt reagiert, erzählt Böwe: „Aber ich habe mich doch schon bei Ihnen beworben, da hieß es, es gebe keine Vakanzen!“ Sie blieb Thomas Ostermeier treu und spielt seitdem an der Schaubühne, Zeitgenossen und Klassiker, nicht nur „Britpop“, wie sie scherzt, auch eine Königin Elisabeth.

Porträts über Jule Böwe betonen meist das Heutige an ihr. Sie sei das Gesicht unserer nervösen Zeit, hieß es einmal, an anderer Stelle stand, die neoexistenzialistische Verlorenheit unserer Tage ließe sich bestens auf ihr Gesicht projizieren. Oft bekommt Böwe auch zu hören, sie wirke wie frisch von der Straße gecastet. Ihr Gesicht und die Gegenwart, das scheint zueinanderzupassen.

Sie hat eine Menge nachhallender Rollen gespielt, auf der Bühne und im Film. Nicht selten Grenzgänger wie die todtraurigen Sarah-Kane-Charaktere oder die Kellnerin Doris in der Neo-Noir-Ballade „Katze im Sack“. Schon viele haben versucht zu enträtseln, was das Geheimnisvolle an ihr ist, aber ob sie sich da gut gespiegelt, ja erkannt fühlte, „das bleibt eben mein Geheimnis“. Vielleicht muss man auch gar nicht genau wissen, woran es liegt, dass sie einen schon mit dem ersten Auftritt neugierig macht auf den Weg, den ihre Figur vor und hinter sich hat. Dass sie wie kaum eine andere diese spezifische Mischung aus Verletzlichkeit und Unnahbarkeit verkörpern kann, diese Gleichzeitigkeit von „Nimm mich in den Arm“ und „Hau ab, du Penner“.

Böwe sagt, sie verwurste alles, was sie erlebe und beobachte, für die Kunst. Und sie halte sich nicht für eine Verstellungskünstlerin. „Ich bin ja dann doch immer irgendwie icke.“ Böwe, geboren in Rostock, ausgebildete Ergotherapeutin mit Arbeitserfahrung in der Psychiatrie, überzeugte Wahlberlinerin seit 20 Jahren, sagt zum Thema Zeitgeist dann noch, sie empfinde sich nicht als „modernen Menschen“. Viel näher dran am Puls der Zeit sei zum Beispiel Helene Hegemann.

Über mehrere Zigarettenlängen hinweg schwärmt Böwe von ihrer Freundin, der Tochter des Dramaturgen und Philosophen Carl Hegemann, die heute 16 Jahre alt ist und 15 war, als sie „Torpedo“ drehte, eine 40-minütige, so witzige wie berührende Berlin-Extravaganza über eine entwurzelte Teenagerin, die in der Künstlerszene am Prenzlauer Berg ihren Platz sucht. „Ein Typ von der Bank, der Geld geben sollte, sagte, so einen Teeniekram habe er hundertmal gelesen“, erzählt Böwe. „Ich dachte nur: tja, schlecht gelesen.“ Die Geschichte sei autobiografisch gefärbt, aber eben auch von einem ganz eigenen Kunstgriff beseelt.

Böwe spielt darin die Schauspielerin Cleo, und es gibt eine wunderbar surreale Probensequenz, in der sie sich mit einem Regisseur anlegt und dann ganz entrückt einen langen Monolog spricht. Böwe lacht. Die ganze Berliner Theaterlandschaft werde da durch den Wolf gedreht, sagt sie: „Jule Böwe spielt an der Volksbühne im Bühnenbild eines René-Pollesch-Stücks einen Text von Falk Richter mit dem Regisseur Sebastian Baumgarten.“ Insider-Humor, klar, aber auch genau die Art von Selbstironie, die der Szene sonst abgeht.

Jule Böwe hat den berühmten Mangel an guten Frauenrollen bis jetzt nicht gespürt. Sie kann Rollen spielen, die ihrem Alter entsprechen, aber auch immer noch die ganz jungen Figuren. Privat, sagt sie, trägt sie gern zwei verschiedene Ringelsocken. Das Kindliche liege ihr. Angst vor dem Alter? Ach wo, nein. Obwohl, und dann lacht sie besonders laut, „vielleicht lüge ich jetzt“. Jedenfalls feiert sie gern Geburtstag. All ihre Freunde kommen dann in ihre Stammkneipe und trinken mit ihr. Das ist für Jule Böwe, als gäbe es Kalten Hund.

Der Film „Torpedo“ läuft am 29. 10., 21.30 Uhr, in der Filmbühne der Volksbühne, das Stück „Anatol“ hat am 1. 11., 20 Uhr, an der Schaubühne Premiere.

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