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Lebt mit seiner Freundin, der Dichterin Muriel Pic, und drei Kindern in Zürich. Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss.

© picture alliance / Paula Ribas/dpa

Büchner-Preis an Lukas Bärfuss: Nichts ist ungeheurer als der Mensch

Er macht dem Ärger über sein Land Luft: Der Schweizer Erzähler, Essayist und Dramatiker Lukas Bärfuss erhält den Georg-Büchner-Preis.

Von Gregor Dotzauer

Habituelle Provokateure sind eine Plage für jede Medienrepublik. Unter dem Vorwand, unliebsamen Wahrheiten Gehör zu verschaffen, bewerben sie oft nichts anderes als die eigene Marke, und je mehr sie dabei angeblich minoritäre Meinungen kundtun, desto stärker setzen sie insgeheim auf das Einverständnis der der schweigenden Mehrheit. Der Schweizer Lukas Bärfuss steht in allen fraglichen Punkten unter Anklage, aber wer sich der radikalen Ernsthaftigkeit seiner Bücher und Theaterstücke aussetzt, wird sie sofort wieder fallen lassen.

Bärfuss braucht den Gegenwind zum Atmen, und er macht dem Ärger über sein Land Luft, um nicht an den Verhältnissen zu ersticken. Seine Wortmeldungen gehören zur kontinuierlichen, doch gänzlich unroutinierten Psychohygiene eines „Leidgenossen“ (Oliver Jungen), der das Unvermeidliche im Aussichtslosen tut. Und darin, über alle Links-Rechts-Polaritäten hinaus, liegt der Unterschied zu Antipoden wie dem notorischen Wider-den-Stachel-Löcker Roger Köppel, dem Verleger und Chefredakteur der „Weltwoche“, der seit 2015 überdies für die nationalkonservative SVP im Nationalrat sitzt

„Die Schweiz ist des Wahnsinns“ überschrieb Bärfuss 2015 einen Zwischenruf, in der „FAZ“, mit dem er sich zu Hause in die Nesseln setzte. Ausgehend von einer Sammelbildaktion der größten Schweizer Einzelhandelskette Migros sah er die Schweiz darin kurz vor den Parlamentswahlen auf einem rechten Irrweg. Unter dem Titel „Suissemania“ sollte man 50 nationale Sehenswürdigkeiten in ein Album kleben. Bärfuss störte sich insbesondre an dem Wort Manie und attestierte seinem Land nach einem Blick in den Pschyrembel „eine psychotische Störung der Affektivität, häufig mit Wahnvorstellungen und Katatonie verbunden“.

Neuer Unmut nach den Gutmütigen

Gegen solche Diagnosen nimmt sich jede Bosheit von Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt onkelhaft gutmütig aus. Man muss aber auch sagen, dass erst mit Bärfuss wieder ein nennenswertes Maß an Unmut die Grenze nach Deutschland überquerte. Der stille Außenseiter Hugo Loetscher blieb ein weitgehend innerschweizerisches Phänomen, und Adolf Muschg, der mit seinen politischen Einlassungen durchaus Verdienste hat, aber mit seiner Altersprosa über alle Ufer tritt, ist für die Gegenwart verloren.

In der Tat war er 1994 nach dem acht Jahre zuvor bedachten Friedrich Dürrenmatt der letzte Schweizer, der mit dem Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet wurde. Dagegen kamen die Österreicher, die zuletzt 2008 und 2009 mit Walter Kappacher und Josef Winkler geehrt wurden, viel öfter zum Zuge. Ob das mit der wachsenden Entfernung eines Landes zu tun hat, das mit der Europäischen Union nicht nur traditionell, sondern hochgradig akut fremdelt, oder mit einer kulturellen Verkapselung, die die Schweizer Literatur seit Jahren in den Bereich eines Sonderforschungsbereichs verweist, darüber lässt sich streiten.

Anzunehmen ist jedoch, dass Lukas Bärfuss, der nun am 2. November in Darmstadt die mit 50 000 Euro dotierte Auszeichnung erhält, nicht ohne Weiteres in den Fokus gerückt wäre, wenn er mit dem Göttinger Wallstein Verlag nicht eine deutsche Heimat hätte – und in den hiesigen Medien einen zuverlässigen Resonanzverstärker. Schließlich darf man nicht vergessen, dass der Dramatiker Bärfuss, der von 2009 an vier Jahre lang als Dramaturg am Zürcher Schauspiel arbeitete, heute an deutschen Bühnen häufiger gespielt wird als an eidgenössischen.

Dreifachbegabung als Erzähler, Essayist und Dramatiker

Die Jury zeichnet den 1971 in Thun im Berner Oberland geborenen Schriftsteller denn auch als Dreifachbegabung aus: „In einer distinkten und dennoch rätselhaften Bildersprache, karg, klar und trennscharf, durchdringen sich nervöses politisches Krisenbewusstsein und die Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse am exemplarischen Einzelfall, psychologische Sensibilität und der Wille zur Wahrhaftigkeit. Mit hoher Stilsicherheit und formalem Variationsreichtum erkunden seine Dramen und Romane stets neu und anders existentielle Grundsituationen des modernen Lebens. Es sind Qualitäten, die zugleich Bärfuss’ Essays prägen, in denen er die heutige Welt mit furchtlos prüfendem, verwundertem und anerkennendem Blick begleitet.“

Die älteste Schicht machen dabei die Theatertexte aus. Am Anfang seiner Karriere zur Jahrtausendwende steht eine Variation von „Sophokles’ Oedipus“ in der Zürcher Fußgängerzone. Aus der „Antigone“ zitiert er heute noch gerne den Satz: „Ungeheuer ist vieles und nichts ungeheurer als der Mensch.“ Im Jahr darauf machte er mit der Groteske „Meienbergs Tod“ Furore. Sie widmet sich Leben und Suizid des legendären Schweizer Reporters Niklaus Meienberg. 2003 folgte „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ über das geschlechtliche Erwachen einer jungen Frau aus der psychopharmakologischen Ruhigstellung. Vor vier Jahren verfilmte Stina Werenfels das international erfolgreiche Stück mit Victoria Schulz, Jenny Schily und Lars Eidinger.

Wenn man Bärfuss eines zugutehalten will, dann ist es ein Bemühen um moralische Universalität. Er kennt seine spezifisch schweizerischen Blessuren, aber 2008 hält er in seinem ersten Roman „Hundert Tage“ den Völkermord der Hutu an den Tutsi in einem stark allegorisch gehaltenen Ruanda dagegen. Der Protagonist, ein junger Entwicklungshelfer, versucht sich, versteckt in seinem Haus, einen Reim darauf zu machen, was vor seiner Tür geschieht und ist doch schon mit dem Alltag überfordert.

Diesen Blick über den europäischen Horizont hat Bärfuss seitdem immer wieder versucht. Der Essayband „Stil und Moral“ beginnt mit der Erinnerung an eine Reise in den Norden Kameruns an der Grenze zum Tschad, wo ihm ein einheimischer Grundschullehrer zum Abschluss seines Kurzvortrags über die Schweiz die Frage stellt: „Et vous, alors, vous avez été colonisé par qui?“ – Von wem bitteschön sind Sie eigentlich kolonisiert worden? Und im Nachfolgeband „Krieg und Liebe“ geht es unter anderem um das blutige Gefecht um Port Arthur im Gelben Meer während des Russisch-Japanischen Kriegs 1904.

Was Menschen am Leben hindert

All dies ist keine Obsession mit dem Tod: Es ist aber das, was im Kleinen und im Großen, allzu gern verleugnet, auf dem Spiel steht. Sein 2014 erschienener Roman „Koala“, eher ein erzählender Essay in drei heterogenen Teilen, verarbeitet den nach langem Drogenmissbrauch herbeigeführten Selbstmord seines Halbbruders, dies allerdings nicht autobiografisch, sondern als Fallstudie über das, was Menschen am Leben hindert.

Ganz ins Fiktionale greift sein jüngster Roman „Hagard“ aus: die Tragödie eines lächerlichen Mannes, der hilflos seiner eigenen Selbstzerstörung zusieht. Aus einer bloßen Laune heraus folgt er, ein Immobilienverwalter mit klarem Pflichtenkatalog, einer Frau, wie sie ein Zürcher Kaufhaus verlässt. Er sieht sie nur von hinten und später wohl nur noch jemanden, den er für diejenige hält, der er da zwanghaft nachsteigt. In fein polierter Prosa beobachtet Bärfuss, wie sein Protagonist mangels eines funktionierenden Smartphones erst den Kontakt zu seiner Umwelt verliert und dann mit einem fehlenden Schuh sogar noch den gewohnten Boden unter den Füßen. Ein Alptraum mit kaltem Witz.

Die Prosa von Lukas Bärfuss weiß wenig von den Unruhen seiner Protagonisten – auch wenn wie bei „Hagard“ noch ein Erzähler dazwischengeschaltet ist, der die Verzweiflung herunterkühlt. Selbst in den Momenten der Erschütterung verlieren seine Sätze nicht die Contenance. Aber das macht auch einen Teil ihrer unheimlichen Wirkung aus. Die Webschwächen, die sich seine Romane hin und wieder vorhalten lassen müssen, liegen eher im Dramaturgischen. Ihre große Stärke besteht darin, dass sie die Literatur nicht für ein beliebiges Medium der Darstellung halten. Die Konflikte, die Bärfuss verhandelt, gewinnen im Schreiben ihre einzigartige Form.

„Ich weiß alles, und ich begreife nichts“, erklärt der Erzähler von „Hagard“. Er setzt alles daran, dies zu ändern. Das Vertrauen ins Gelingen dieser Anstrengung zeichnet auch Lukas Bärfuss als selten kraftvollen Schriftsteller seiner Generation aus.

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