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Säule des Handels. E. L. James’ „Shades of Grey“-Trilogie hat sich im deutschsprachigen Raum knapp sechs Millionen Mal verkauft.

© Markus Kirchgessner/laif

Buchmarkt: Top oder hopp

Wer hat den nächsten Megaseller? Die Buchbranche leidet unter Konzentrationsprozessen und macht nur noch mit einzelnen Titeln Profit, mit Bestsellern wie "Shades of Grey" oder "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand". Das Internet ist übrigens nicht schuld daran.

Erst fing es mies an, und dann wurde es kaum besser. So ungefähr lässt sich das Jahr 2012 aus Sicht der deutschen Buchbranche beschreiben. Bis in die Herbstmonate hinein verlief das Geschäft mit dem Lesestoff äußerst schleppend, zwischen zwei und sechs Prozent unter den Vorjahreszahlen lagen die monatlichen Umsätze der Verlage und Buchhändler laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Erst der Oktober brachte die Trendwende. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass das Weihnachtsgeschäft die Verluste der vergangenen Monate komplett ausgleichen konnte. Vermutlich wird 2012 wie schon 2011 mit einem leichten Minus zu Ende gehen.

Noch ist das kein Grund für kulturpessimistische Untergangsszenarien, das Jammern findet weiterhin auf hohem Niveau statt; die Zeit der Rekordumsätze ist noch nicht lange her. Trotzdem blicken Verleger und Buchhändler sorgenvoll auf den Abwärtstrend. Zwar war der Buchmarkt in den vergangenen zwei Jahrzehnten finanziell erstaunlich stabil, rund neun Milliarden Euro setzten Verlage und Buchhändler durchschnittlich um. Aber das Lese- und das Kaufverhalten haben sich massiv verändert. Das Geld wird mit immer weniger Titeln verdient. „Es sind oft nur noch eine Handvoll Bücher, die über den Erfolg oder Misserfolg eines ganzes Geschäftsjahres entscheiden“, erklärt Georg Reuchlein, Verleger des Goldmann-Verlags. Goldmann hatte 2012 genau die drei Bücher im Programm, die den großen Unterschied gemacht haben, die „Shades of Grey“-Trilogie von E. L. James. Die Sadomaso-Romane haben sich im deutschsprachigen Raum bislang knapp sechs Millionen Mal verkauft.

Es ist nicht das erste Mal, dass eine einzelne Autorin wesentlich für den Jahresumsatz eines Verlags sorgt. Die Entwicklung begann mit Joanne K. Rowlings „Harry Potter“-Reihe, die seit Ende der 1990er Jahre die weltweiten Bestsellerlisten dominierte. Abgelöst wurde Harry Potter von Edward und Bella aus Stephenie Meyers Bis(s)-Vampire-Saga. Weitere Belletristik-Goldesel der letzten Jahre hießen Jussi AdlerOlsen, Ken Follett, Tommy Jaud, Christopher Paolini und Charlotte Roche. Von 2007 bis 2011 standen sie mit ihren Büchern auf den ersten drei Plätzen der deutschen Jahresbestsellerlisten.

Und das sind – finanziell gesehen – die entscheidenden Positionen. Schon ab Platz sechs bis acht der Bestsellerlisten sind die Umsätze lange nicht mehr so bedeutend. Für die Verlage heißt das: hopp oder top. Ein einziger Titel auf den oberen Rängen der Bestsellerliste kann – je nach Verlagsgröße – für mehr als 50 Prozent der Gesamtumsätze sorgen. Und damit auch einen Großteil der anderen Neuerscheinungen querfinanzieren. Fehlt dieser Megaseller hingegen, kann das Mittelfeld den Ausfall kaum noch auffangen. Viele Verlagsprogramme werden nicht mehr von Dutzenden Säulen getragen, von erfolgreichen Büchern mit Auflagen bis 100 000 Stück. Sondern von einzelnen, die es schaffen, die Millionenmarke zu knacken. „Das Geschäft ist riskanter geworden“, sagt Reuchlein.

Umso nervöser starren Verlagsleiter und Lektoren wöchentlich auf die Bestsellerlisten-Platzierung. Erst wenn sich ein Titel dort an der Spitze behaupten kann, setzen die erhofften Rückkopplungseffekte ein. Das ohnehin schon erfolgreiche Buch wird noch großflächiger in den Buchhandlungen dekoriert, noch ausgiebiger in Fernsehen und Feuilleton besprochen, noch öfter in sozialen Netzwerken empfohlen und kommentiert. Matthäus-Effekt heißt das in der Schwarmforschung. Wer hat, dem wird gegeben.

Dass Rankings selbstverstärkend wirken, ist nichts Neues. „Die Klage, alles richte sich nur nach den Bestsellerlisten, höre ich seit 35 Jahren“, sagt Boris Langendorf, Herausgeber eines Branchendienstes für den stationären Buchhandel. Auch das Phänomen Megaseller kennt die Buchbranche schon seit vielen Jahrzehnten. 1930, nachdem Thomas Mann im Jahr zuvor den Literaturnobelpreis erhalten hatte, wurden die bis dahin kaum rezipierten Buddenbrooks binnen weniger Monate über eine Million Mal verkauft. Ende der 1950er Jahre ließ Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“ weltweit die Kassen der Buchhändler klingeln.

Doch was früher Ausnahmen waren, ist heute die Regel. Mindestens einmal im Jahr fegt ein einzelner Autor oder ein einzelnes Buch über die globalisierten Märkte hinweg, meist macht der Erfolg nicht vor Landesgrenzen Halt. Die Wellen entwickeln dabei eine solche Kraft, dass die Konsumenten buchstäblich nicht dagegen anschwimmen können. „Wenn alle Welt über ein Buch spricht, dann will man auch mitreden“, sagt Georg Reuchlein. Früher hätten manche Leser das gebundene Buch gekauft, andere bewusst auf die günstigere Taschenbuchausgabe gewartet. „Heute wird das Kaufverhalten von instant gratification bestimmt, von dem Wunsch nach sofortiger Befriedigung.“ Vor allem kontrovers diskutierte Bücher liest man dann, wenn auch der Rest der Welt sie gerade liest. Nicht erst zwei Jahre später.

Die Vielfalt des Angebots wird dabei notgedrungen aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Zwar erscheinen jedes Jahr im deutschsprachigen Raum knapp 100 000 neue Bücher, der Käufer aber kommt mit dieser Vielfalt kaum in Kontakt.

Die Filialisten setzen immer mehr auf Kalender, Stofftiere oder Kaffeetassen

Das liegt auch daran, dass das Sortiment der großen Buchhandlungen sich in den letzten Jahren schleichend verändert hat. Wo früher die Tische mit den Bestsellern im Hintergrund von der sogenannten Buchtapete ergänzt wurden, setzen Filialisten wie Thalia und Hugendubel heute vermehrt auf Kalender, Stofftiere, Kaffeetassen. Es ist eine aus der Not geborene Strategie. Die, die einst die kleineren Buchhandlungen aus den Innenstädten verdrängten, sind in den letzten Jahren durch Online-Händler wie Amazon selbst unter Druck geraten.

Trotzdem kann dem stationären Buchhandel nicht die ganze Schuld für die Konzentrationsprozesse in die Schuhe geschoben werden. „Das Käuferverhalten, die Veränderungen im Handel, in der Verlagslandschaft, in der Medienberichterstattung stehen in Wechselwirkung“, sagt Martin Spieles, Pressesprecher der S. Fischer Verlage. Jeder Akteur schaut, was der andere macht. Und kopiert das im Zweifelsfall. So entstehen Hypes, die sich von den Bestsellerlisten über die sozialen Medien bis in die Feuilletons erstrecken.

Das Internet ist an diesen strukturellen Veränderungen, da sind sich viele in Branche einig, ausnahmsweise nicht schuld. Große Onlineportale werden von den Verlagen mittlerweile sogar als Korrektiv geschätzt, weil sie fast alle lieferbaren Titel aus den Backlists der Verlage vorrätig halten. Und sie sogar noch gelegentlich verkaufen.

Long Tail hat der amerikanische Journalist Chris Anderson dieses Geschäftsmodell getauft. Mit einer großen Anzahl von Nischenprodukten lässt sich durchaus Kundschaft anlocken und Geld verdienen. Das gilt nicht nur im Internet. Auch für die Sortimentsplanung kleinerer, spezialisierter Buchhandlungen könnte die „Long-Tail-Theorie“ in Zukunft wieder wichtiger werden.

Branchenkenner Langendorf jedenfalls ist überzeugt: „Buchhändler verkaufen am besten, wenn sie sich nicht nur auf das Gutverkäufliche verlassen.“ Abgesehen davon: Noch weiß niemand, wie der Megaseller des Jahres 2013 heißen wird. Geschweige denn, wann er erscheint – und ob es diesmal um Ketten, Säbel, Peitschen oder Amulette geht.

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