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Pulitzer-Preisträgerinnen 2018. Jodi Kantor (links) und Megan Twohey schreiben für die „New York Times“.

© Klett-Cotta/Martin Schoeller

Buch zur Enthüllung des Weinstein-Skandals: Das Bonobo-Prinzip

Die "New York Times"-Reporterinnen Jodi Kantor und Megan Twohey haben den Weinstein-Skandal aufgedeckt. In ihrem Buch "#MeToo" schildern sie das Jahr ihrer Recherche.

Ein Krimi, ein Kriegsreport, ein Spionageplot, ein Psychothriller: Dieses nüchtern verfasste Buch liest sich wie ein Genre-Drehbuch für Hollywood. Aber ohne Glamour, ohne Schaulust. Die Wahrheit ist spannend genug.

Die „New York Times“-Reporterinnen Jodi Kantor und Megan Twohey berichteten als erste über die sexuellen Übergriffe des mächtigen Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein, ihr Artikel erschien am 5. Oktober 2017. Am 10. Oktober folgte die Reportage von Ronan Farrow im „New Yorker“.

Der Skandal führte zur weltweiten Ausbreitung der MeToo-Bewegung: Beginn eines Kulturwandels. Im Januar 2020 wurde Weinstein schließlich in New York vor Gericht gestellt und wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu 23 Jahren Haft verurteilt, ein weiterer Prozess in L.A. gegen ihn steht noch aus. In „#MeToo. Von der ersten Enthüllung zur globalen Bewegung“ schildern Kantor und Twohey die immense Mühe, die dem vorausging.

Die Schauspielerin Ashley Judd, die sich als erste bereit erklärt hatte, namentlich als Weinstein-Opfer genannt zu werden, hatte in einem Juraseminar in Harvard von den Bonobo-Affen gehört. Eine Spezies, bei der das Weibchen die anderen Weibchen mit einem Schrei herbeiruft, wenn ein Männchen aggressiv wird. Gemeinsam verjagen sie den Angreifer. Sexuelle Nötigung existiert bei den Bonobos nicht mehr, lernte sie. Judd war überzeugt, so könnte es auch bei den Menschen gehen. Auch die Frauen müssten nur Bündnisse schließen und man könnte den Weinsteins das Handwerk legen.

Weit gefehlt, stellten die „Times“-Journalistinnen zunächst fest. Jodi Kantor bat die in den sozialen Medien äußerst unerschrockene Schauspielerin Rose McGowan per Mail um ein Gespräch, weil diese über eine Vergewaltigung durch einen Produzenten getwittert hatte und das Gerücht kursierte, es handele sich um den Miramax-Gründer.

Aber McGowan lehnte ab. Zu schlechte Erfahrungen mit den Medien, die „Times“ solle sich an die eigene Nase fassen. Kantor antwortete, indem sie kurz die positiven Folgen ihrer bisherigen Enthüllungsgeschichten über Sexismus in der Arbeitswelt aufzählte.

Indizien, Beweise, Zeugenaussagen: Kantor und Twohey ermittelten einen Kriminalfall

Immer wieder standen die beiden vor verschlossenen Türen. Am Ende doch Dutzende Interviews führen zu können, Dokumente zu erhalten, die Details von Weinsteins Belästigungen und strafbaren Handlungen belegen, Schweigevereinbarungen und alte, unter Verschluss gehaltene Gerichtsakten auftreiben zu können, Weinstein selbst einzuvernehmen (der alles abstritt) und von den Frauen die Zustimmung zur Veröffentlichung ihrer demütigenden Erlebnisse und ihrer Namen zu erhalten, das erfordert eine Zähigkeit, Akribie und Passion, die mit gewöhnlichem Tagesjournalismus wenig zu tun hat.

Schon wegen des Aufwands. Ein ganzes Jahr lang taten die beiden nichts anderes, als für diesen einen 3300-Wörter-Artikel (dieser Text hier hat etwa 1000) zu recherchieren, unterstützt von vielen Kollegen.

Im Buch, das in den USA unter dem Titel „She Said“ erschienen ist (und in dessen deutscher Übersetzung man sich etwas weniger Kommafehler wünschte), ist nicht von Recherchen die Rede, sondern von Ermittlungen. Zu Recht: Die Reporterinnen fahndeten buchstäblich nach Indizien, Beweisen, Zeugenaussagen. Manche Fährte erwies sich als Sackgasse, manche Spur förderte Überraschungen zu Tage.

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Es geht schon damit los, dass die Autorinnen Stars wie Gwyneth Paltrow oder Salma Hayek nicht über deren Agenten kontaktieren konnten. Die Tür bleibt zu bei einem so sensiblen Thema. Paparazzo-Methoden verbieten sich auch – was nicht heißt, dass Kantor und Twohey nicht auch an Haustüren klingelten oder einen am Auto werkelnden Ehemann ansprachen. Wie bleibt man integer, vertrauenswürdig? Indem jede Vertraulichkeitszusage absolut eingehalten und jede einzelne Aussage im Umfeld der Frauen einem Gegencheck unterzogen wurde. Megan Twohey erinnert sich an einen früheren Kollegen, der an seinem Schreibtisch den Satz hängen hatte: „Wenn deine Mutter sagt, dass sie dich liebt, dann prüf das.“

Gwyneth Paltrow gehörte zu den jungen Schauspielerinnen, denen der damalige Miramax-Chef Weinstein (l. von Paltrow) eine Karriere im Gegenzug zu sexuellen Gefälligkeiten versprach. "Shakespeare in Love" mit Paltrow in der Hauptrolle gewann 1999 sieben Oscars.
Gwyneth Paltrow gehörte zu den jungen Schauspielerinnen, denen der damalige Miramax-Chef Weinstein (l. von Paltrow) eine Karriere im Gegenzug zu sexuellen Gefälligkeiten versprach. "Shakespeare in Love" mit Paltrow in der Hauptrolle gewann 1999 sieben Oscars.

© Imago/Zuma Press

Es folgte die Erkenntnis von Weinsteins Verhaltensmuster. Schon die ersten Gespräche, teils am anderen Ende des Kontinents oder in London geführt, förderten Varianten des immergleichen Settings zu Tage: Hotelzimmer, Bademantel, Champagner, Massage, Masturbation, Schmeicheleien, rüde Drohungen. Ob Ashley Judd, Laura Madden in Irland, die 1992 als 22-Jährige von Weinstein belästigt wurde, die ehemalige Londoner Miramax-Büroleiterin Zelda Perkins oder die Mitarbeiterin Emily Nestor an ihrem ersten Arbeitstag 2014 – sie alle hatten ähnliches erlebt. Und alle zögerten, hatten Angst. Das Buch erzählt auch, wie tief das Trauma sitzt.

Hinzu kam das Schweigekartell der Mitwisser rund um den Täter, vom Finanzmanager der Weinstein Company bis zu den Assistentinnen, die die Treffen mit „Weinsteins Freundinnen“ (es gab eine Liste) zu managen und ein Penis-Medikament gegen erektile Dysfunktion zu besorgen hatten. Die ganze Struktur, die auf Scham, Schuldgefühlen, Machtmissbrauch und Sorge um die Firma basierte.

Aushorchen, manipulieren: Die Reporterinnen wurden gezielt bespitzelt

Zwei besonders erschütternde Kapitel sind dem Rechtssystem in den USA gewidmet und den teils kriminellen Methoden des Weinstein-Teams beim Versuch, die Veröffentlichung des Artikels zu verhindern. Die weit verbreitete Vergleichspraxis verbannt Opfer ganz legal zum Schweigen. Versuche, die Gesetzgebung zu ändern, wurden unter anderem von Staranwältin Gloria Allred torpediert, die im Weinstein-Prozess eines der Opfer vertrat. Auch andere feministische Anwältinnen verdienten ein Vermögen mit solchen Vereinbarungen. Üblich sind 30 Prozent Anwaltsanteil.

Harvey Weinstein während des Prozesses in New York, am 22. Januar 2020.
Harvey Weinstein während des Prozesses in New York, am 22. Januar 2020.

© AFP/Timothy A. Clary

Es sind nicht nur Männer. Lisa Bloom, Allreds Tochter und damals Weinstein-Beraterin, versprach ihrem Klienten, bei Google eine Art Firewall gegen kritische Weinstein-Artikel zu errichten. Agenten der israelischen Firma Black Cube wurden eingeschaltet, die teils mit Ex-Geheimdienstlern auf die Investigativjournalistinnen angesetzt wurden. Dazu gehörte auch eine Frau, die unter falschem Namen operierte und Jodi Kantor unter fadenscheinigen Vorwänden kontaktierte, um ihr Informationen zu entlocken. Von Kriegsführung ist die Rede, keine übertriebene Formulierung. Die Veröffentlichung des Artikels konnten die Manipulationen jedoch nicht verhindern.

Die Strukturen und die Vergleichs-Gesetzgebung haben sich nicht geändert

Die gute Nachricht: Über 80 Frauen, die von Weinstein behelligt wurden, sind seitdem an die Öffentlichkeit gegangen, auch Gwyneth Paltrow, die lange nicht namentlich genannt werden wollte. Zahlreiche mächtige Männer, die sich für sakrosankt hielten, verloren ihre Posten.

Das Bonobo-Prinzip funktionierte schließlich doch: Der Epilog schildert ein Treffen von zwölf Frauen, die teils auch an anderen Arbeitsplätzen das Schweigen gebrochen hatten. Auch die McDonald’s-Mitarbeiterin Kim Lawson war dabei, die einen Arbeitskampf gegen sexuelle Belästigung in der Fastfoodkette angestrengt hatte. Und Kantor, Twohey und Farrow gewannen den Pulitzerpreis.

Die schlechte Nachricht: Die Strukturen und die Vergleichsgesetzgebung haben sich nicht geändert. Auch die Institutionen nicht – so das Fazit des Schlusskapitels über Brett Kavanaugh, der 2018 Supreme-Court-Richter wurde, obwohl die Psychologieprofessorin Christine Blasey Ford ihn in einer öffentlichen Senatsanhörung der versuchten Vergewaltigung bezichtigte. Ford war ein „Einzelfall“, anders als die Weinstein-Opfer genoss sie zum Zeitpunkt der Anhörung nicht den Schutz der Menge. Auch Trump, über dessen sexuelles Fehlverhalten Megan Twohey schon 2016 berichtet hatte, ist noch im Amt. Und in der Coronakrise droht ein weiterer Backlash.
Jodi Kantor, Megan Twohey: #MeToo. Von der ersten Enthüllung zur globalen Bewegung. Aus dem Englischen von Judith Elze und Katrin Harlass. Tropen, Stuttgart 2020. 448 Seiten, 18 €.

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