zum Hauptinhalt
Sündenbock Asien. Tausende von New Yorkern protestieren im März 2021 nach rassistischen Attentaten auf Massagesalons in Atlanta.

© imago images/ZUMA Wire

Buch „Rassismus begreifen“ von Susan Arndt: Wie Weißsein zum Herrschaftsinstrument wurde

Susan Arndt zeigt in ihrem Buch „Rassismus begreifen“ die weitreichenden Folgen des Kolonialismus auf - und weist Wege zu einem bewussteren Umgang mit der Geschichte.

Von keiner Museumsleitung konzipiert, vollzieht sich am Humboldt Forum womöglich eine Form geglückter Subversion. So könnte man deuten, wie sich die Widersprüche der deutschen Erinnerungspolitik in einem Gebäude manifestieren, das einen Stadtraum besetzt und zugleich symbolisch in Diskursräume hineinragt, die in ständiger Transformation begriffen sind. Die rekonstruierten Fassaden des Schlosses, den imperialen Machtanspruch in ein ästhetizistisches Simulakrum umfunktionierend, hat man mit Objekten gefüllt, die gegen diese Inbesitznahme rebellieren.

Zur Eröffnung des Humboldt Forums betonte die amtierende Bundeskulturstaatsministerin Monika Grütters, das „deutsche Selbstverständnis im 21. Jahrhundert“ zeige sich darin, „dass wir uns hier nicht selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern den Kulturen Afrikas, Amerikas, Ozeaniens und Asiens und ihren unterschiedlichen Weltanschauungen eine Bühne bieten.“

Das soll bescheiden klingen und wirkt doch gönnerhaft. Als genüge es, die Sammlungen aus der Peripherie Dahlems nach Mitte zu holen. Wer wie mit wem und worüber spricht, ist nicht einfach eine Frage der Sensibilität. Es ist eine Frage von Machtverhältnissen.

„Sprache ist nicht das Gegenteil von Handeln: Sprache handelt“, schreibt Susan Arndt gegen Ende ihres umfangreichen Buches. „Rassismus begreifen“ ist ein breit angelegtes Kompendium, das bis in die Antike zurückgeht, um deutlich zu machen, wie tief sich rassistische Denkweisen eingegraben haben. „Rassen gibt es nicht – und doch töten sie“, schrieb die französische Soziologin Colette Guillaumin.

[Susan Arndt: Rassismus begreifen. Vom Trümmerhaufen der Geschichte zu neuen Wegen. Verlag C.H. Beck, München 2021. 478 Seiten, 24 €.]

Biologisch ist die Existenz von „Rassen“ längst widerlegt, genetisch lassen sie sich nicht nachweisen. Die Unterschiede zwischen einzelnen Individuen sind größer als die zwischen vermeintlich ethnischen Zugehörigkeiten. Die Autorin spricht deshalb von einem „biologistischen Konstrukt“ und setzt den Begriff in einfache Anführungszeichen, wenn er in diesem Sinne gemeint ist. Als „soziale Position“ schreibt sie ihn kursiv.

Sprachliche Stolpersteine

Die Professorin für Englische Literatur und Anglophone Literaturen an der Universität Bayreuth nimmt sprachliche Stolpersteine in Kauf, wenn sie Vokabeln, die sie – zurecht – für rassistisch hält, nur mit dem Anfangsbuchstaben markiert und dort, wo es für das Verständnis unbedingt notwendig ist, in kleinerer, zudem durchgestrichener Schrift ausschreibt. Ein Glossar am Ende versammelt Wörter, die als rassistisch gelten.

Begibt man sich damit nicht freiwillig in einen Elfenbeinturm, in dem es zwar korrekt zugeht, den aber niemand betreten will? Im Gegenteil. Es ist Teil des analytischen Verfahrens und bei aller anfänglichen Beschwerlichkeit erkenntnisstiftend. „Rassismus begreifen“ ist eine einleuchtende Darlegung, warum es beim Versuch, mit Sprache nicht zu diskriminieren, um weit mehr geht als nur um Höflichkeit oder Sensibilität. Es geht um historisches und politisches Bewusstsein, auch und gerade im Zusammenhang der deutschen Kolonialgeschichte.

Eine Postkarte zeigt wie deutsche Soldaten im damaligen Deutsch-Südwestafrika Schädel von getöteten Herero und Nama verladen (etwa 1900).
Eine Postkarte zeigt wie deutsche Soldaten im damaligen Deutsch-Südwestafrika Schädel von getöteten Herero und Nama verladen (etwa 1900).

© Imago

Dabei entfaltet Arndt die Implikationen bestimmter Redewendungen. Etwa die von der „Entdeckung Amerikas“, die die Vorstellung eines frei zur Verfügung stehenden Landes evoziert, das nur darauf wartet, in Besitz genommen zu werden. Ein praktisches Legitimationsinstrument. Selbst wenn man es besser weiß, schieben sich solche euphemistischen Formulierungen vor historische Tatsachen. Der „Eroberer“ wird zum „Entdecker“, die „genozidale Gewalt“ zu einer Abstraktion, die sich aus dem Bewusstsein verdrängen lässt.

Ähnlich funktioniert der Dualismus von Natur und Kultur. Während sich die europäischen Kolonisatoren auf der Seite der Kultur platzieren, ordnen sie die indigenen Gesellschaften der Natur zu. So wurde das „Tarnverständnis von Kolonialismus als Kultivierung bzw. von Natur“ möglich. Kolonialismus ist ein „Eroberungsweltkrieg“, betont Susan Arndt in wünschenswerter Deutlichkeit. Er ist der „historische Kontext von Rassismus“.

Ausgangspunkt Kongokonferenz

Deshalb spricht sie auch nicht von „Sklaven“, sondern von „versklavten Menschen“ und betont damit den Gewaltakt der Versklavung und nicht den vermeintlichen Ist-Zustand von Menschen, die als „Sklaven“ geboren würden. Der Wohlstand des globalen Westens gründet auf Sklaverei und der Verschleppung afrikanischer Menschen, die in der Plantagenökonomie der beiden Amerikas ausgebeutet wurden.

In der sogenannten Kongokonferenz oder Berliner Konferenz, einberufen 1884/85 von Reichskanzler Otto von Bismarck, teilten die kolonialen Großmächte fast 30 Millionen Quadratkilometer afrikanischen Bodens mit mehr als 100 Millionen Menschen unter sich auf. Das Britische Empire herrschte auf dem Höhepunkt seiner Macht über ein Viertel der Erde und der Weltbevölkerung. Das Deutsche Kaiserreich unter Wilhelm II. war in Hinsicht auf die Bevölkerungszahl das fünftgrößte europäische Kolonialreich, territorial sogar das drittgrößte. Doch lange hielt sich der Mythos, Deutschland sei als Kolonialmacht kaum in Erscheinung getreten – und brauche sich deswegen um Fragen der Dekolonisation nicht zu kümmern.

Gedenkmarsch zur Erinnerung an die afrikanischen Opfer von Versklavung, Kolonialismus und rassistischer Gewalt in Berlin.
Gedenkmarsch zur Erinnerung an die afrikanischen Opfer von Versklavung, Kolonialismus und rassistischer Gewalt in Berlin.

© Imago

All das ist seit der Entkolonialisierung der 1960er Jahre bekannt, in deren Folge auch die ersten zaghaften Rückforderungen von Raubkunst erhoben wurden, wie Bénédicte Savoy nachwies. Der Genozid der deutschen Kolonialmacht an den Herero und den Nama im heutigen Namibia rückt mittlerweile ins Bewusstsein der politisch Interessierten.

Die Haltung Deutschlands, das für den größten industriell betriebenen Genozid der Geschichte verantwortlich ist, für die Ermordung der europäischen Juden sowie der Sinti und Roma, ist widersprüchlich. Die Größe dieser Schuld scheint sich wie ein Schutzschirm vor die Wahrnehmung kolonialer Verantwortung und anderer Rassismen zu stellen. Etwa in der Ausladung des Kameruner Politikwissenschaftlers Achille Mbembe, der im August 2020 die Ruhrtriennale eröffnen sollte, aber wegen seiner vermeintlich antisemitischen Haltung in der Frage des israelisch-palästinensischen Konflikts wieder ausgeladen wurde.

Blindheit nach den NSU-Morden

Die koloniale Gewalt in einem Land wie Kamerun, deutsche Kolonie von 1884 bis 1919, in der fast jede Familie traumatisiert ist, sei dort stärker im Bewusstsein als die Shoah, argumentiert Mbembe in einem anderen Kontext. Ob man mit der Formulierung des Schwarzen Widerstands vom „Black Holocaust“ oder „African Holocaust“ spricht oder mit dem Kiswahili-Begriff von der „Maafa“: Millionen Schwarzer Menschen starben an den Folgen kolonialer Gewalt. Im Fokus der Aufmerksamkeit für die Bekämpfung von Antisemitismus hat sich in Deutschland eine merkwürdige Blindheit für andere Formen des Rassismus eingestellt. Die NSU-Morde sind dasoffenkundigste Beispiel dafür. Jahrelang suchten die Behörden auf der Seite der Opfer nach den Tätern.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Die europäische Religions- und Kulturgeschichte bevorzugt, von der Antike bis zur Gegenwart, die Farbe Weiß. Sie verkörpert das Heilige, das Geistige, das Unschuldige, das Noble, das Adlige, während das Böse, Dunkle, Traurige mit schwarzer Farbe verbunden wurde. „Weißsein“, formuliert Arndt, ist ein „paneuropäisches Herrschaftsgut“. Heterosexuelle, weiße Männer seien die „unmarkierten Markierer“, die allen anderen die Plätze zuweisen und die eigenen Privilegien nicht zur Kenntnis nehmen. Dass es sich bei diesem Typus um eine privilegierte Sprecherposition handelt, ist kaum zu leugnen. Warum sollte man nicht gegensteuern?

Es ist das große Verdienst Susan Arndts, einer der engagiertesten Vertreterinnen der Critical Whiteness Studies, dass sie die verschiedenen historischen und politischen Kontexte des Rassismus zusammenbringt. „Rassismus begreifen“ ist ein Netzwerk des verdrängten Wissens. Es bietet sich in vielen Themenfeldern als Nachschlagewerk an, um den gegenwärtigen Debatten mehr Tiefe zu geben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false