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Zukunft braucht Erinnerung. Jan Assmann (l.) und seine Frau Aleida Assmann bekommen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen.

© Arne Dedert/dpa

Buch "Achsenzeit": Friedenspreisträger Jan Assmann erkundet die Anfänge geistiger Globalisierung

Frühes Weltbürgertum und Mysterium der Erleuchtung: Erinnerungsforscher Jan Assmann widmet sich in "Achsenzeit" einer Theorie des Philosophen Karl Jaspers.

"Nun machen Sie einem wieder richtig Lust, ein Weltbürger zu sein, oder richtiger, machen es wieder möglich“: So schrieb die Philosophin Hannah Arendt 1948 an ihren Lehrer Karl Jaspers nach der Lektüre einer Essay-Auskopplung seines großen Buches über die Achsenzeit, die auf Deutsch im Sommer 1948 im „Merkur“ erschienen war. Der Titel des Essays lautete „Die Achsenzeit der Weltgeschichte“, das gesamte Buch „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ (1949).

Jaspers hatte sich 1937 in die innere Emigration zurückgezogen, weil er sich nicht von seiner jüdischen Frau Gertrud trennen wollte, 1938 hatte er Publikationsverbot erhalten. Er und seine Frau hatten bereits einen Deportationsbefehl erhalten, als die Amerikaner Heidelberg befreiten. Die Jahre der Zurückgezogenheit waren für Jaspers enorm produktiv. Er bereitete sein Hauptwerk „Von der Wahrheit“ (1947) vor und daneben viele weitere Publikationen, die in rascher Folge nach Kriegsende erschienen, als man ihn in einem kleinen Kreis unbelasteter Professoren mit der Neugründung der Heidelberger Universität beauftragte. Aber vor allem ausgedehnte Lektüren zur außereuropäischen Philosophie und Literatur, besonders zur chinesischen, legten die Grundlagen zu seinem großen geschichtsphilosophischen Werk, das den Begriff „Achsenzeit“ international bekannt machte und mit einer gewissen Verzögerung viele fruchtbare Forschungsprojekte inspirierte.

Achsenzeit als Umbruch

Jaspers nennt das In-Erscheinung-Treten großer Philosophen und Religionsstifter um das Jahr 500 vor Christus in verschiedenen, zunächst unabhängig scheinenden Kulturen, die Achsenzeit. Lao-Tse und Konfuzius in China, Buddha in Indien, Zarathustra in Persien, Heraklit, Xenophanes und Parmenides in Griechenland und die jüdischen Propheten in Palästina – innerhalb von wenig mehr als einer Generation haben diese großen Einzelnen in ihren Kulturen Werterevolutionen und neue Arten zu denken bewirkt. „Die Achsenzeit erschließt erstmals die Möglichkeit weltumspannender Kommunikation und führt eine Epoche geistiger Globalisierung herauf. Zwar kommunizierten Konfuzius, Buddha, Zarathustra, Jesaja und Xenophanes nicht miteinander. Sie hätten sich aber verstanden“, schreibt der Kulturwissenschaftler Jan Assmann in seiner großen Monografie „Achsenzeit", die Jaspers’ Thesen einer ausführlichen Prüfung unterzieht sowie deren Vorgeschichte seit dem 17. Jahrhundert untersucht.

Was bei Jaspers als Mysterium der Gleichzeitigkeit erscheint und als eine Art Offenbarung des Weltgeistes aus den mythologischen Epochen emergiert, erscheint bei Alfred Weber und seinem „synchronistischen Zeitalter“, das zur Vorgeschichte von Jaspers gehört, eher entmystifiziert: Nach Weber haben die Reitervölker seit 1200 v. Chr. einen „Kontaktgürtel“ von China bis Griechenland geschaffen, innerhalb dessen sich nichts mehr unabhängig voneinander entwickele. Bei Jaspers erscheinen die Protagonisten der Achsenzeit jedoch eher monolithisch, aber durch ein geheimes Band miteinander verbunden.

Revolte der Menschlichkeit

Der Kulturphilosoph und Humanist Lewis Mumford, der Jaspers früh rezipierte, interpretierte die Achsenzeit als „Bewegung von unten“, als eine Revolte der Menschlichkeit, Bescheidenheit und Gerechtigkeit gegen Macht, Habgier und Gewalt. Sie war aber auch eine denkerische Bewusstwerdung in vielfältiger Hinsicht. Jaspers schreibt: Die Achsenzeit ist ein Zeitalter „um die Mitte des letzten Jahrtausends vor Christus, für das alles Vorhergehende wie Vorbereitung erscheinen kann, und auf das sich alles Folgende faktisch und oft in hellem Bewusstsein zurückbezieht. Die Weltgeschichte des Menschseins hat von hier ihre Struktur. Dann wäre diese reale Achsenzeit die Inkarnation einer idealen Achse, um die das Menschsein in seiner Bewegung zusammenfindet.“

Aber auch ein neues Geschichtsbewusstsein zeichnet sich ab: „Im Licht der Gedächtnistheorie lässt sich diese Schwelle eher als eine ganz neue Form von Verankerung in der Vergangenheit verstehen. Was Jaspers als ,Achsenzeit’ bezeichnete, bedeutete unter anderem eben auch eine entscheidende, durchbruchartige Steigerung unserer Möglichkeiten, uns auf die Vergangenheit zu beziehen, zurückzuschauen und an geheiligten Traditionen festzuhalten.“

Spätantike und Mahayana Buddhismus als anschließende Achsenzeiten

Monotheismus und Metaphysik sind die Schlagworte der Achsenzeitrevolutionen. Das jüdische Bilderverbot und der griechische Gedanke vom Einen sind im Westen die markantesten Entwicklungen des Zivilisationsprozesses, des „Fortschritts im Geiste“ (Sigmund Freud). Dass aber nicht nur das Einsperren der Götter in die Transzendenz und die Logifizierung des Denkens gemeint sind, darauf weist Assmann anhand eines Panoramas der kosmotheistisch-pantheistischen Traditionsräume hin. Die griffigen Formeln wie vom „Mythos zum Logos“ werden an Assmanns vieltausendjährigem Horizont bisweilen brüchig. Schon in Ägypten kamen Denken und Erzählen oft und eng zusammen, wie sie in Griechenland nie vollständig auseinanderfielen.

Handelt es sich bei den Phänomenen der Achsenzeit um „Mysterien“, „Grenzsituationen“ oder handfeste „Durchbrüche“ – in jedem Fall sind sie der Beginn einer geistigen Globalisierung, die den Rückfall in die reine Lokal- oder Nationalkultur nicht mehr erlauben, ohne hinter das einmal erreichte Niveau der Geistigkeit zurückzufallen. Natürlich gab es, darauf weist Jan Assmann hin, andere, anschließende Achsenzeiten, wie die Spätantike mit Hellenismus und den Mahayana-Buddhismus in Indien oder später die Renaissancen, die die Ausschließlichkeit der Jasper’schen These ergänzen, ohne sie zu relativieren. Aber der Humanismus der Achsenzeitkulturen setzte Werte und Normen, die bis heute Gültigkeit haben und nur von Biologisten und Amoralisten notorisch bezweifelt werden.

Zukunft braucht Herkunft

Nach dem vollständigen Zusammenbruch der Kultur in Nationalsozialismus und Krieg gab Karl Jaspers’ Buch Hoffnung auf ein neues Weltbürgertum. Jan Assmann zeichnet kongenial das wissenschaftshistorische Panorama des Achsenzeittheorems und zeigt, wie sehr es nottut, aus dem Rücklauf in die Geschichte die Gegenwart zu begreifen. Gegenwart braucht Erinnerung.

Zukunft braucht Herkunft, wie der verstorbene Philosoph Odo Marquard wusste. Dass diese Erinnerung nicht einfach von selbst geschieht, sondern immer aufs Neue gemacht werden muss, ist eine der vielfältigen Erkenntnisse, die sich aus diesem im wahrsten Sinne des Wortes epochalen Buch ergeben.

Marius Meller

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