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Kennt sich im Ruhrgebiet sehr gut aus. Der Berliner Schriftsteller Ralf Rothmann, 67.

© Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Brutal und herzzerreißend: Ralf Rothmann erzählt von den Schatten der Gewalt

Der Berliner Schriftsteller versammelt in „Hotel der Schlaflosen“ fesselnde Geschichten des Unglücks. Sie reichen vom Moskau der Stalinzeit bis ins Ruhrgebiet.

Die Exekutionen finden im Keller eines alten Moskauer Hotels statt, weil es im Butyrka-Gefängnis zu eng geworden war. Wassili Blochin, sowjetischer Offizier, erschießt Menschen im Akkord, ohne mit der Wimper zu zucken, ein routinierter Handwerker des Todes.

Einer der Gefangenen, die zum Tode verurteilt sind, ist der Dichter Isaak Babel. Blochin kennt den Autor, er hat dessen Erzählzyklus „Reiterarmee“ mehrfach gelesen. Anstatt sein Opfer sofort zu erschießen, nimmt er sich Zeit: Bietet ihm etwas von den Piroggen an, die seine Frau ihm fürs Mittagessen zubereitet hat, bittet Babel, eines seiner Bücher zu signieren. Der Autor mit seinen gefolterten Händen ist dazu nicht mehr in der Lage und kann nur noch seine Fingerabdrücke hinterlassen.

Kurze Zeit später stirbt er lautlos, erschossen von Wassili Blochin, 1940. Mitte der fünfziger Jahre wird Isaak Babel rehabilitiert. Und Blochin versucht vergeblich, das signierte Werk in einem Antiquariat zu verkaufen – keiner glaubt ihm, dass die Fingerabdrücke echt sind.

„Hotel der Schlaflosen“, die großartige Titelgeschichte des neuen Erzählbands von Ralf Rothmann, ist brutal und herzzerreißend. Das liegt vor allem daran, dass sie aus der Perspektive des perfiden Peinigers geschrieben ist, der mit seinem Opfer Katz und Maus spielt und ihn für einige Momente in der Illusion wiegt, es könne vielleicht doch noch Rettung für ihn geben.

Die Erschießung Isaak Babels durch Wassili Blochin ist historisch verbürgt, Blochin war einer der fleißigsten Mörder in der Zeit der stalinistischen Säuberungen. Später, 1955, hat er sich offenbar selber das Leben genommen.

Viele enden als Geschäftsführer der Traurigkeit

Die Titelgeschichte ist mit Abstand die grausamste in Rothmanns Band. Doch auch in vielen anderen Erzählungen geht es ebenfalls düster zu, sie werden bestimmt von Krankheit, Trennung oder Tod Nichts ist einfach gut, es gibt keine lässige Heiterkeit, selbst in der Schönheit flackert der „Schatten der Gewalt“.

Rettung gibt es bestenfalls in der Liebe, aber wer hat schon das Glück, ihr zu begegnen, ohne enttäuscht zu werden?

[Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 200 Seiten, 22 €.]

Viele von Rothmanns Protagonisten enden als „Geschäftsführer der Traurigkeit“, unabhängig davon, wann und wo die Geschichten spielen. Auffällig ist, wie wenig homogen sie sind, und wie unterschiedlich die Settings: Mal geht es ins Moskau der Stalinzeit, dann nach Berlin Anfang der achtziger Jahre, dann wieder ist der Schauplatz die mexikanische Wüste. Oder das Ruhrgebiet – ein Milieu, das Rothmann, der dort aufgewachsen ist, allzu gut kennt und immer wieder in seinen Büchern porträtiert hat.

Elend mit Beharrungsvermögen

Auch Marlies ist so eine, die vom Leben ständig Tritte gegen das Schienbein bekommt und ihre „Wünsche mit Zuckerrand“ begraben muss. Ihre Mutter schlägt sie regelmäßig, mit kaltem Blick, selbst wenn die Tochter nur gedankenverloren in der Nase bohrt.

Oder sie rammt ihr den Kopf gegen den Spülstein – zum Glück ist es nur ein Milchzahn, den Marlies dabei einbüßt. Später, sie arbeitet jetzt im Krankenhaus, quält sie ihre Katze, so wie sie von ihrer Mutter malträtiert wurde.

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„Auch das geht vorbei“ lautet der lakonische Titel der Erzählung. Dabei wissen alle Beteiligten, dass das Elend viel Beharrungsvermögen hat.

Manchmal wird es sogar lustig

Selten blitzt ein Funken Zuversicht hinein, zum Beispiel in „Geronimo“. Vater und Sohn werden auf dem Weg zum Spielzeugladen von einem Fremden bedroht, der eine geladene Pistole in der Hand hält. Der Vater bleibt ruhig und ringt sich sogar ein Lächeln ab. Ein Lächeln, das stark kontrastiert zu seiner sonst eher melancholischen Ausstrahlung – der Vater schuftet als Bergmann.

Das Lächeln deutet darauf hin, dass es noch etwas anderes geben mag, das über den mühseligen Alltag des Arbeiters hinausweist, „ein tief verschüttetes Glücksvorkommen, etwas Geheimes, das sich im richtigen Moment in Wohlwollen für alle und jeden verwandelte“.

Und manchmal gibt es in diesen dunkel orchestrierten Geschichten sogar Humor, etwa in „Das Sternbild der Idioten“: Zu DDR-Zeiten möchte ein Team aus dem Westen einen Film über die Berliner Mauer drehen.

Weil einige der Statisten, die als DDR-Grenzer auftreten sollen, ein paar echte DDR-Grenzer aus einer Laune heraus provozieren, droht die ganz Sache fulminant zu scheitern.

Macht und Ohnmacht

Ralf Rothmann ist ein feinfühliger Chronist des Unglücks. Und er ist ein glänzender Beobachter, der die Schwächen, Verfehlungen und Ängste seiner Figuren bis in die feinsten Verästelungen offenlegt, ohne dabei zu psychologisieren. Macht und Ohnmacht, Brutalität und Angst, Verhängnis und Hoffnung – in diesen Spannungsfeldern steckt der in Berlin lebende Schriftsteller seine Stories ab.

Auch die unselige Paarung von Gewalt und Lust führt er mehrfach vor, so in „Der dicke Schmitt“. Der Oberpolier macht auf der Baustelle seine Arbeiter fertig und weidet sich an ihrer Angst. Oft ist der Ton zurückgenommen, fast karg, Andeutungen müssen reichen. In anderen Geschichten lässt Rothmann seine Figuren von der Leine, und sie dürfen in Rollensprache loslegen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist: frech, ungefiltert, proletarisch.

„Fear is a man’s best friend“: Der Satz aus dem Song von John Cale ist das Motto dieses eindrucksvollen Buchs. Man kann sich beim Lesen schon ziemlich fürchten. Ralf Rothmann erspart niemandem etwas. Seinen Figuren schenkt er keine Zufluchtsorte. Aber manchmal ein paar winzige Inseln des Trostes.

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