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Nobelpreisträgerin. Die Schriftstellerin Herta Müller wurde 1953 in Rumänien geboren und lebt seit 1987 in Berlin.

© imago/VIADATA

Brücke-Berlin-Preis-Rede: Nachts, wenn die Zäune wandern

Was ist von 1989 geblieben? Polen, Ungarn, Tschechien, Rumänien, Russland – wo man hinschaut in Osteuropa, sieht man schäbigen Egoismus und korrupte Machteliten am Werk.

Der Brücke-Berlin-Preis würdigt herausragende Werke der zeitgenössischen Literaturen Mittel- und Osteuropas und ihre Übersetzung ins Deutsche. Seit 2002 wird der Preis von der BHF Bank Stiftung verliehen, gemeinsam mit dem Goethe-Institut und dem Literarischen Colloquium Berlin. In diesem Jahr wurden der georgische Autor Zaza Burchuladze und seine Übersetzerin Natia Mikeladse Bachsoliani ausgezeichnet; der erstmals vergebene Theaterpreis ging an die Serbin Iva Brdar und ihre Übersetzerin ins Deutsche Alida Bremer. Dem langjährigen, 2016 verstorbenen Schirmherrn dieses Preises Péter Esterházy folgte in diesem Jahr die Nobelpreisträgerin Herta Müller nach. Wir drucken hier ihre Rede, die sie kürzlich zur Preisverleihung im Deutschen Theater gehalten hat.

Vor zwei Jahren – so lange ist das schon her – ist Peter Esterhazy gestorben. Und er fehlt nicht nur hier. Er konnte so leicht über die Abgründe Osteuropas erzählen, ohne im Witz abzustürzen.

Was wollen die Länder Osteuropas, hat er sich 2014 gefragt. „Vormittag Freiheitskampf gegen Brüssel, Nachmittag die von Brüssel gekommenen Gelder zusammenzählen? Und am Abend?“ Damals – so muss man heute sagen, obwohl nur vier Jahre vergangen sind – damals ging er davon aus, dass „die Länder Europas zur Zeit zugleich getrennt und zusammen sein wollen, sie haben die gemeinsame Form ihres Egoismus noch nicht gefunden“.

Heute kann man Freiheitskampf streichen – der gemeinsame europäische Egoismus wurde in Osteuropa von einem schäbigen Egoismus der zumeist korrupten Machtcliquen abgelöst. Wenn man heute nach Osteuropa schaut, sieht man in einen Zerrspiegel der Zeit vor 1989.

In Polen wird die Unabhängigkeit der Justiz, ohne die ein demokratischer Rechtsstaat undenkbar ist, abgewürgt und eine direkte Hierarchie geschaffen, an deren oberer Spitze die Regierung steht. Ein Hauch von Diktatur macht sich breit, in dem die PiS ihrem sowjetischen Feind zu ähneln beginnt – und sich dabei wohlfühlt. In Tschechien regiert ein ehemaliger Spitzel des Geheimdienstes mit Unterstützung der heutigen kommunistischen Partei. In Rumänien, einem der korruptesten Länder der Welt, wurde von den Sozialdemokraten (wie sich die ehemalige Kommunisten und Unterstützer Ceausescus heute nennen, um die Unterstützung der Sozialdemokraten in Europa zu bekommen, die sie auch bekamen) in Rumänien also, wurde nicht nur die Chefermittlerin der Staatsanwaltschaft abgesetzt, die Dutzende Minister und Regierungsmitarbeiter ins Gefängnis gebracht hat. Man hat sogar noch größere Pläne: die Legalisierung der Korruption. Erst ab einem Betrag von 200 000 Euro soll man überhaupt von einem Straftatbestand sprechen.

Putin ist für mich eine Lügenmaschine. Seine Dreistigkeit raubt einem fast den Verstand.

Dafür gibt es ein altes bewährtes Sprichwort: „Nur nachts wird gestohlen. Am Tag wird genommen.“ Es ist wieder wie früher – die Nomenklatura nahm sich und nimmt sich, was sie wollte. Soll ich noch über Ungarn reden, über die Türkei, in der es mehr inhaftierte Journalisten und Autoren gibt als sonstwo in der Welt? Und über Putin, der alle nationalistischen und homophoben Parteien nicht nur in West-, sondern auch in Osteuropa unterstützt?

Doch, über Putin muss ich noch etwas sagen. Das hätte Peter Esterhazy heute bestimmt auch getan.

Putin ist für mich eine Lügenmaschine. Seine Dreistigkeit raubt einem fast den Verstand. Über Morde an Journalisten – der Mord an Anna Politkowskaja an seinem Geburtstag oder an Boris Nemzow direkt unter seinem Kreml-Fenster – gibt er sich empört. Und er hat sich um diese Morde gekümmert. Deshalb wurde noch keiner aufgeklärt. Und er sorgt auch dafür, dass die Lager des Gulag wieder – oder soll man sagen – weiter funktionieren.

Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow wurde vor einem Jahr von einem Lager ins andere verlegt, nach Labytnangi ans Ende der Welt, an den Polarkreis. Diesen Ort bindet nur noch ein einziger dünner Faden an die Welt: die Jamal Pipeline, durch die das russische Erdgas in deutsche Küchen und deutsche Kraftwerke kommt.

Und die Morde in Großbritannien – sind es mittlerweile sieben? – haben angeblich mehr mit dem Nebel dort zu tun als mit Putins Geheimdienst. Ich muss schon sagen, so schlecht wie Putin und so viel lügt sonst keiner. Außer vielleicht sein Außenminister Lawrow. Ja, Putin hat viel zu tun. Seit Jahren führt er einen unerklärten brutalen Krieg in der Ukraine. Die Krim hat er sich bereits fertig unter den Nagel gerissen. Er führt einen laufenden stillen Krieg in Transnistrien, um der Republik Moldau die Mitgliedschaft in der EU zu „ersparen“. Und in Georgien sichern Putins Streitkräfte die Unabhängigkeit von Abchasien und Ossetien – das geht mittels Grenzzäunen, so wie man früher die DDR vor dem Westen „geschützt“ hat. Aber diese Grenzzäune sind lebende Zäune im allerengsten Sinne des Wortes. Und sie sind nachtaktiv. Sie können laufen und fressen Stück für Stück und Nacht für Nacht einen weiteren Streifen Georgiens ins russische Einflussgebiet.

Das Land, das man mitbringt ins Exil, ist nur so groß wie die Fußsohlen und die Trauer im Kopf

Und in Syrien garantiert die russische Luftwaffe das Überleben der Diktatur Assads. Die vielen Kriegsflüchtlinge sind für ihn nicht der Rede wert. Höchstens als Drohung, es könnten noch mehr werden, wenn der Westen die von Putin zerbombten Städte nicht wieder aufbaut. Irgendwann wird es wieder Häuser geben. Aber wo die neuen Häuser sind, ist auch der alte Diktator Assad. Welcher Flüchtling kann das ertragen?

Es ist alles so unerträglich.

In Osteuropa gibt es immer noch Demokratie, aber nicht immer mehr – wie man 1989 gehofft hat. Immer mehr gibt es nur vom Nationalismus, vom religiösen Eifer, von der Gleichschaltung der Medien und von der Einschüchterung der Künstler.

Ich habe 1989 gedacht, viele Westeuropäer werden mit der Zeit nach Osteuropa ziehen. Aber es kam umgekehrt. Viele Osteuropäer müssen heute wieder aus Angst in den Westen fliehen, ins Exil. Das wird sich so bald nicht ändern.

Einer dieser Flüchtlinge ist Zaza Burchuladze. Er schreibt: „Jetzt verstehe ich, was Thomas Mann meinte, als er in Amerika sagte, ,Wo ich bin, ist Deutschland.’ Je länger ich Georgien fern bleibe, steigert sich in mir alles Georgische. Zum Glück oder leider geschieht das ganz unbewusst.“

Das Land, das man mitbringt ins Exil, ist nur so groß wie die Fußsohlen und die Trauer im Kopf. Und so groß wie das mitgebrachte Land auf der Landkarte ist nur das Heimweh. Auch Thomas Mann hatte keinen Größenwahn, sondern Heimwehschmerz, als er das sagte. Größenwahn konnte man ihm in Deutschland nach 1945 nur vorwerfen, weil man die Dimensionen des Exils nie verstanden hat. Und nicht verstehen will, wenn man heute gegen Flüchtlinge hetzt.

Der Brücke-Preis spannt eine Brücke nach Osteuropa. Für mich ist er aber auch eine Brücke zurück in die deutsche Geschichte. In die Zeit der Angst, als Hunderttausende vor den Nazis fliehen mussten. Eine Brücke ist ein konkreter Gegenstand. Eine Brücke als Ganzes sieht man nur aus der nötigen Distanz. Und wenn man dann die ganze Brücke sieht, sieht man auch, was unter der Brücke ist.

Herta Müller

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