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Brockhaus: Der letzte Wälzer

Einst waren Enzyklopädien feste Größen im Bücherregal – jetzt sterben die Dinosaurier aus. Brockhaus kann gegen die Konkurrenz der "Weisheit der Vielen" im Internet nicht mehr mithalten und geht nun selbst in Netz.

Von Caroline Fetscher

Jetzt geht er ein in das Reich der toten Bücher, der Brockhaus. Still und staubig abgewandert ist das Lexikon aufs Altenteil des Antiquarischen, wo es von nun an auf den Regalen von Staatsbibliotheken oder im Nachlass der Großeltern seinen Platz einnehmen wird. „Die 21. Auflage der ,Brockhaus Enzyklopädie‘ war voraussichtlich die letzte – ab jetzt findet alles online statt“, teilte ein Sprecher des Brockhaus-Vorstands mit. Denn Marktanalysen zeigten eindeutig, „dass die Kunden künftig Sachinformationen in erster Linie online nachschlagen werden“.

Online schlägt man übrigens nicht nach. Man klickt sich surfend, einen Bildschirm vor Augen, von Link zu Link und von Website zu Website voran. Den bürgerlich-klassischen Wissenserwerb an der Basis mit seinem Anfassen von Buchdeckeln, dem Weiterblättern, Papiergeruch und Entdecken von Fundstücken wie vergilbten Notizzetteln oder gepressten Blumen wird es in Zukunft nicht mehr geben. Wissensvermittlung geschieht künftig vor allem beim Treffen zweier virtueller Entitäten, des menschlichen Gehirns und des elektronischen Speichers des World Wide Web.

Gegen den Impuls, einen an Walter Benjamin erinnernden Klagetonfall anzuschlagen, wird sich kaum ein Bildungsbürger wehren können: Wo wird das Be-Greifbare, Haptische bleiben, das Element des wenigstens minimal weniger Entfremdeten? Wo ereignet sich dann noch das stille Aufdemteppichhocken im Licht der Lampe, das versunkene Blättern im dicken Buch, ohne Computersurren im Hintergrund?

Aber war diese Bildungsidylle nicht ohnehin selten und vor allem eine Illusion? Jean-Paul Sartre beschrieb 1963 in seiner Kindheitsautobiografie „Les Mots“ (Die Wörter) die frühe Liebe des Jungen zum Lexikon, dessen Pendant in Frankreich der „Petit Larousse“ darstellt. In der Bibliothek des Großvaters futterte das Kind die Bücher, verschlang Berichte aus China, Bildbände zur Kunstgeschichte, Romane des 19. Jahrhunderts. „Aber der Larousse ersetzte mir alles“, jubelte Sartre im Rückblick über die Entdeckerfreude des Schuljungen: „Ich nahm mir wahllos einen Band vom vorletzten Regal hinter dem Schreibtisch. A – Bello, Belloe – Ch oder Ci – D, Mele – Po oder Pr – Z (diese Verbindungen waren Eigennamen geworden, welche die Sektoren des Universalwissens bezeichneten. Es gab die Region Ci – D oder die Region Pr – Z, nebst Fauna und Flora, nebst Städten, Schlachten und großen Männern); ich legte den Band mühselig auf die Schreibunterlage meines Großvaters, öffnete ihn, ich hob dort richtige Vögel aus, jagte dort nach richtigen Schmetterlingen, die sich auf richtigen Blumen niedergelassen hatten.“

Und Sartre schwärmt: „Die Abbildungen waren der Körper, der Text war ihre Seele, ihre einzigartige Essenz (…).“ Auf diese Weise haben allerdings nur sehr, sehr wenige Bildungsbürgerkinder die Lexika verwendet. Als Geschenk, mit dem man gar nichts falsch machen konnte, spielte der Brockhaus in Deutschland seine zwischen Einschüchterung und Ehrfurcht oszillierende Rolle bei den „rites de passage“ einer Bildung suchenden oder eher Bildung simulierenden Mittelschicht. Überreicht wurden die mehrere Kilo schweren Pakete zur Konfirmation, zum Studienbeginn, zur Hochzeit. Da zogen die zwei Meter Buchrücken ins Bücherregal ein, um zu repräsentieren und allenfalls dann zur Hand zu sein, wenn beim Scrabble Streit um ein Wort entbrannte oder der weltreisende Neffe eine Postkarte aus einem exotischen Ort schickte, von dem man noch nie gehört hatte.

Im Geheimen wussten auch manche Kinder Aufklärung im Brockhaus zu suchen, wo unter Stichwörtern wie Anatomie, Mensch, Körper, Organismus einander überlappende, transparente Seiten ein Palimpsest des Leibes offenbarten. Muskeln, Fortpflanzungsorgane, Knochen ergaben, übereinandergelegt, ein faszinierend unheimliches Bild des Verborgenen oder gar Verbotenen. Ansonsten verharrte die Enzyklopädie auf dem Rang eines Möbels, das mehr Aspiration und Autorität anzeigte, als es Versprechen auf universelle Kenntnis einlöste. Um nun dem dubiosen Internetlexikon „Wikipedia“, das Einträge von allen für alle zulässt, alternativ eine seriöse, qualitätsgeprüfte Quelle entgegenzusetzen, will der Verlag Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, der auf eine Verlagsgründung von 1805 zurückgeht, nun bald eine Online-Enzyklopädie anbieten, die der dramatisch im Wandel befindlichen Welt gerecht werden soll. Neu entstandene Staaten, aktuelle Lebensdaten von Personen der Zeitgeschichte, moderne Technikbegriffe – all das soll unverstaubt und elektronisch verfügbar werden, quasi im Takt einer Nachrichtenagentur.

„Gesicherte Erkenntnisse sind außerordentlich kostbar. Der Wert von objektiven, zuverlässigen, ausgewogenen und auch sicheren Informationen steigert sich in dem Maße, in dem der Berg an Information anwächst“, hatte Hubertus Brockhaus 2005 zum zweihundertjährigen Verlagsjubiläum erklärt. Was jetzt entstehen soll, wenn alte Mitarbeiter entlassen und junge, online-versierte eingestellt worden sind, wird nie mehr dem Prestige heischenden Handapparat von einst ähneln, sondern einen Service darstellen, der wie das System „books on demand“ dazu führen wird, dass die Nutzwälder für die Papierherstellung nicht vom Verlag selbst, sondern vom individuellen User konsumiert werden, wenn er auf der Strecke von A nach Z nur das jeweils für ihn Verwertbare ausdruckt.

Ob und wie ein lexikalischer Hunger die von der Informationsflut verwirrte User-Community im Internet überhaupt auf diese Strecke führt, das wird die Brockhaus AG an den Klickraten messen können. Einstweilen befasst sich das Gros der Internet-User eher mit privaten Ebay-Geschäften und Online-Gebrauchtwagenanzeigen, mit Kochtipp-Websites, hypochondrischen Gesundheits-Chatrooms, Ressentiments verbreitenden Bloggern, Elektronik-Erotik, religiösen, fundamentalistischen, politisch-ideologischen Verschwörungstheorien anonymer Internet-Leader und haufenweise anderem Mist mehr. „Brockhaus Online“ wird mit Wikipedia und anderen Ablenkungen konkurrieren müssen. Das Kind Jean-Paul ist ohnehin vom Leseteppich vertrieben. Wissende Massen aber entstehen auch jetzt nicht über Nacht.

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