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Buschfeuer in Australien, Heimat von Claire Thomas.

© dpa/Dan Himbrechts

Brillanter neuer Roman von Claire Thomas: Wo die Feuer wüten

Drei Frauen, Beckett und der Klimawandel: Claire Thomas’ Roman „Die Feuer“ erzählt mit bezwingender Raffinesse von Angst und Panik.

Ziemlich absurd, sich in einen abgedunkelten Raum zu setzen, die Füße still, die Arme beengt, der Blick fixiert auf ein eigentlich belangloses, nicht sehr abwechslungsreiches Geschehen. Jedes Räuspern wird mit Blicken bestraft, Seufzern, beleidigtem Stöhnen. Schon gewöhnliche Theatererlebnisse kann man ohne Zweifel für absurd erklären, da braucht es keinen Beckett.

Doch hier ist er, Beckett, in diesem Roman, der im Original „The Performance“ heißt, und es ist sogar eines der statischsten Theaterstücke, die der irische Wortakrobat des Beinahe-Nichts zu Papier brachte. „Happy Days“ ist dafür berühmt, dass fast gar nichts geschieht. Winnie, die weibliche Hauptfigur, steckt in einem Erdhügel fest, zunächst bis zur Taille, dann bis zum Hals. Willie, ihr Mann, kriecht draußen herum. Endzeit, mindestens.

Wer Beckett liebt, liebt das Wort-für-Wort, das Umwenden jeder Sinnscherbe, die Bedeutung noch der minimalsten Bewegung. Wer Beckett liebt, kennt seine Stücke oft auf Deutsch, Französisch, Englisch und meistens auch mehrere verschiedene Aufführungen. Man könnte Lebensläufe daran aufhängen. Und in der Tat, genau das macht die australische Schriftstellerin Claire Thomas in ihrem fulminanten zweiten Roman (nach „Fugitive Blue“), der auf Deutsch nicht ohne Grund „Die Feuer“ heißt. Denn draußen, jenseits des eiskalt heruntergekühlten Theaterraums in einem Melbourner Kulturzentrum, wüten die Buschfeuer der apokalyptischen Klimawandel-Gegenwart.

Minimalste Bewegungen effektiv eingesetzt

Es ist faszinierend, dass das wirklich geht. Drei Frauen, die Hauptfiguren, sitzen im Zuschauerraum und fast alles, was der Roman erzählt, findet in ihren Köpfen statt, während der Aufführung von „Happy Days“. Bis auf die Pause, wo sie sich im Foyer begegnen, und bis auf die kleinen Nickligkeiten im Nahkampf mit fremden Körpern, etwa, wenn sich Margot, die siebzigjährige Literaturprofessorin, die der Dekan aus der Fakultät hinauskomplimentieren möchte, gegen die Armlehnen-Okkupation eines rot behaarten männlichen Unterarms mit Papageien-Tattoo wehrt. Als er die Lehne kurz freigibt, fährt sie ihren eigenen Unterarm aus und sitzt für Momente da wie eine „Königin“.

Wie in Becketts Stück mit seinen vielen gestischen Regieanweisungen setzt auch Thomas minimalste Bewegungen effektiv ein, auf körperlicher und auf seelischer Ebene. Dabei lernen wir die Protagonistinnen sehr gut kennen, ihre Lebensläufe, ihre gegenwärtigen Konflikte, und dadurch, dass sie alle gewissermaßen denselben Gegenstand betrachten, auch ihre kognitiven Verzerrungen. Die Aufführung auf der Bühne wird zum Schwungrad eines Interpretationskarussells, das auch den Spielraum definiert, den Margot, Ivy und Summer in ihren jeweiligen Lebenssituationen haben.

Ein Schauspiel abgestorbener Leidenschaft

Margots gebrochener Stolz ist in jeder ihrer Regungen zu spüren, ob in der herablassenden Art, wie sie als Abonnentin mit dem unbekannten Sitznachbarn Konversation betreibt, oder in dem, was ihr während der Aufführung durch den Kopf geht. Am Bühnengeschehen ist sie nicht besonders interessiert. Sie wusste nicht einmal, dass Beckett auf dem Spielplan steht. Aber sie genießt den Schutzraum, den das Theater ihr bietet. Keine Anforderungen von Studierenden, vom erwachsenen Sohn - den sie entsetzlich langweilig findet -, keine von der Schwiegertochter und der Enkelin und erst recht nicht von John, ihrem Mann.

Sie erkennt in dem Stück auf der Bühne eine Ehetragödie, das schreckliche Schauspiel abgestorbener Leidenschaft. Ihr innerer Monolog ist eine einzige bissige Selbstverteidigung. Immer hat sie gefürchtet, dass ihr Mann sie eines Tages betrügt. Doch ihre Ängste richteten sich auf das Falsche. John ist auf dem Weg in die Demenz und hat ein grässliches Symptom entwickelt: Er prügelt sie grün und blau. Ihr Körper ist übersät mit Hämatomen, und ausgerechnet ihre ehemalige Lieblingsstudentin, Ivy, der sie in der Pause nach Jahren zufällig begegnet, ist der erste Mensch, der sie darauf anspricht.

Diese Ivy ist die Person mit dem größten Bewegungsspielraum. Die ehemals unterprivilegierte Studentin hat von Freunden ihrer verstorbenen Eltern eine Menge Geld geerbt. Seitdem wird sie umworben. Die Karten waren ein Geschenk, um sie zu Spenden zu animieren. Aber Ivy hat nicht nur ihre beste Freundin Hilary mitgenommen.

Schon Krabbelkinder sollen Resilienz lernen

Sie ist tatsächlich Beckett-Fan und kann selbst die Nuancen der Beleuchtung unterscheiden. Das grelle Licht auf Winnies Scheitel ist in ihren Augen das Werk eines „australischen Beleuchters“, das den „öko-feministischen“ Ansatz der Regisseurin unterstreicht. Eine Frau, die schon glücklich ist, wenn ihr Mann sie überhaupt bemerkt, das sieht auch sie in Winnie, der „Frau auf der Bühne“.

Aber sie kommt nicht nur auf die glänzendste Metapher für das Stück und den Roman – „strahlendes Unglück“ –, sie überlegt sich auch, ob Winnie, so eingeschränkt sie in ihrer körperlichen Bewegungsfreiheit ist, andere verbale Strategien finden könnte, um Willie zu etwas mehr Einsatz zu bewegen.

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Ivy ist ein analytischer Charakter wie Margot, doch ihre Überlegungen sind umsichtiger, man merkt ihr an, dass sie noch Zukunft vor sich hat, während ihre frühere Professorin in der „Falle“ sitzt. Ivys erstes Kind ist vor sechzehn Jahren an plötzlichem Kindstod gestorben. Als späte Mutter eines zweiten Sohnes ist sie zwar ängstlich, intellektuell aber auch ziemlich abgeklärt. Sie lacht darüber, dass mittlerweile schon Krabbelkinder „Resilienz“ lernen sollen, und sie entdeckt in „Zeitverzerrungen“ den existentiellen Zusammenhang zwischen Kindererziehung und Beckett-Stücken.

Eine glänzende Übersetzung von Eva Bonné

Summer ist mit ihren zweiundzwanzig Jahren die Jüngste. Sie ist die Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die nichts über ihren Vater weiß, nicht einmal, ob er ein Aborigine ist, wie alle wegen ihres Aussehens vermuten. Sie studiert Schauspiel und jobbt als Platzanweiserin. Deshalb bekommt sie immer nur die Hälfte mit. Das aber trifft sie ins Mark. Sie kann es kaum glauben, dass Beckett „Happy Days“ vor sechzig Jahren schrieb. Denn natürlich erzählt das Stück von einer postapokalyptischen Welt. Oder ist das paranoid?

[Claire Thomas: Die Feuer. Roman. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Hanser Verlag, München 2022. 256 Seiten, 23 €.]

Sie nimmt die Gefahren des Klimawandels so ernst, bis hin zu einer behandlungsbedürftigen Angststörung. Doch sie hat auch einen konkreten Grund für ihre Panikattacken. April, ihre Geliebte, ist zu ihren Eltern in die Berge gefahren, wo die Feuer wüten. Sie ist Tätowiererin und hat sich ihre inneren Organe außen auf die Haut gestochen. Was für eine bizarre Form des Abbild-Realismus!

„Die Feuer“, von Eva Bonné glänzend übersetzt – etwa wenn sie den Ausdruck „zerdenken“ (für „overthinking“) erfindet, um Ivys Nachdenken über die eigene Grübelneigung zu fassen –, ist immer wieder flammend komisch.

Claire Thomas erzählt von Risikowahrnehmung und Kontrollverlust, von Angst und Panik, von weiblicher Körpergebundenheit und männlichem Fatalismus – ganz locker, mit bezwingender Raffinesse. Ein Stück Climate Fiction, menschenfreundlich konstruiert, brillant, klug und unterhaltsam.

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