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Vor 100 Jahren, am 21. Dezember 1917, wurde der Schriftsteller Heinrich Böll in Köln geboren (Foto um 1973).

© epd

Briefwechsel mit Willy Brandt: Heinrich Böll und das Recht auf Trauer

"Mut und Melancholie", und immer wieder Einmischung: Norbert Bicher hat zum 100. Geburtstag Heinrich Bölls dessen Briefwechsel mit Willy Brandt dokumentiert.

Nach Heinrich Bölls Tod im Jahr 1985 hatte man es eilig, ihn zu vergraben und zu vergessen. Die deutschen Kritiker waren sich überwiegend einig, dass er ein guter Mensch, aber kein besonders guter Schriftsteller gewesen sei. So formulierte es auch Frank Witzel, der Erfinder von postmodernen Nachkriegsgeschichten. Der Schriftsteller Böll habe unter seiner öffentlichen Rolle gelitten und ihm sei wenig Zeit zum Schreiben geblieben, sagte Witzel. Er habe sich „für alles eingesetzt“ aber zu wenig „durch seine Werke“ gewirkt.

Natürlich ist Böll vor allem als politischer Mahner in die Geschichte eingegangen – aber hatte das wirklich nichts mit der Wirkung seiner Texte zu tun? So wie es keine scharfe Trennlinie zwischen Prosa und Essay gab, waren für ihn auch seine Briefe an Politiker und Reden über Zeitgeschichte integraler Bestandteil des literarischen Schaffens.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist die private Korrespondenz des Literaturnobelpreisträgers Böll mit dem Friedensnobelpreisträger Willy Brandt, die der Journalist Norbert Bicher jetzt unter dem treffenden Titel „Mut und Melancholie“ dokumentiert hat. Bei aller Verschiedenheit von Herkunft und politischem Alltag fühlten sich der katholische Literat und der sozialistische Politiker ähnlichen humanistischen Zielen verpflichtet. Es ging beiden darum, so der Herausgeber, das Land „endlich von den Folgen der Nazidiktatur zu befreien und in eine streitbare Demokratie zu verwandeln“. Ein Anspruch, bei dem sie sich gegenseitig Mut zusprachen, weil er sie zu überfordern drohte.

Die "Bild" nannte ihn einen "geistigen Komplizen" der RAF

Von Melancholie wurden beide befallen, und sie machten sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder. Böll sprach vom „Recht auf Trauer“ und legte seinen Briefen Familienbilder bei. Doch trotz seiner persönlichen Nähe zu Brandt hielt er – anders als der Wahlkampftrommler Günter Grass – Abstand zur SPD und ließ sich nicht vereinnahmen. So musste auch Brandt erkennen: „Heinrich Böll gehört keiner Fraktion, sondern Deutschland, der deutschen Kultur und der Weltliteratur.“ Nicht immer formulierte Brandt daher seine Briefe persönlich, sondern überließ diplomatische Formulierungen seinem Redenschreiber Martin E. Süskind.

Die deutliche Verdüsterung von Bölls Gesellschaftsbild in späteren Werken wie „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974) oder „Fürsorgliche Belagerung“ (1979), erklärt sich nicht nur aus der persönlichen Diffamierung und Bedrohung durch konservative Kreise und Medien, sondern auch durch Enttäuschung über die Regierungspolitik. Weil Böll im Fall der RAF von „Lynchjustiz“ und „Volksverhetzung“ sprach, wurde er von der „Bild“ als geistiger Komplize der Terroristen bezeichnet, und Innenminister Genscher ließ 1972 sein Haus in der Eifel von einem Spezialkommando durchsuchen.

Für den Betroffenen war das der Anlass, wenig später der sozialliberalen Wählerinitiative eine barsche Abfuhr zu erteilen: „Nein, lieber Günter Grass“, schrieb er an den Initiator, „ich wäre bereit, für Willy Brandt alles zu tun, aber ich kann nichts für eine Regierung tun, die die ganze demagogische Scheiße (gemeint war die Hetze gegen ihn ) bis in die letzte Provinzecke durchsickern lässt.“

Bölls Hoffnungsbilder sind auch religiöse Reformationsbotschaften

Und auf einer sozialdemokratischen Parteiversammlung erklärte er, dass es nicht nur die anarchistische „Gewalt auf der Straße“ gebe, sondern auch „Gewalt und Gewalten, die auf der Bank liegen und an der Börse gehandelt werden“.

Solche Äußerungen ließen sich kaum mit sozialdemokratischer Reformpolitik oder „grüner“ Friedensideologie vereinbaren. Böll hielt in seinen Texten und Reden der Gesellschaft das entgegen, was diese in ihrem offiziellen Wortgebrauch verschleierte. Sein leidenschaftlicher Protest gegen Krieg und Ungerechtigkeit gleicht eher Stéphane Hessels „Empört Euch!“. Nicht zufällig erzielte das Werk des Dissidentenfreundes Böll auch in russischer Übersetzung eine millionenfache Auflage, und die ostdeutsche Autorin Christa Wolf erkannte in seinen Texten eine „unersättliche, ununterdrückbare, brüllende Hoffnung“.

Bölls Hoffnungsbilder sind auch als religiöse Reformationsbotschaften zu deuten, Botschaften, die nicht so ganz zu Brandts Ostpolitik passten. Doch noch im Mai 1985 ließ der sich überreden, einen Brief Bölls an Gorbatschow zu übermitteln. Bölls Werk und Leben war, wie es im Tagesspiegel zu Bölls 25. Todestag hieß, „der Kampf des Einzelnen“. Für ihn bedeutete persönliche „Einmischung die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben“.

In Erinnerungszeiten, in denen die Verknüpfung von Literatur mit Politik unmodern geworden ist, könnte man fragen: Wie „realistisch“ sind Schriftsteller heute?

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