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Die bosnische Hauptstadt war von 1992 bis 1996 von serbischen Einheiten eingekesselt.

© Antoine Gyori/Corbis/Getty

Roman über den Bosnienkrieg: Gerechtigkeit für Sarajevo

Nüchtern und bitter: Damir Ovčinas Debütroman „Zwei Jahre Nacht“ beschreibt die Belagerung seiner Heimatstadt.

Die Mutter stirbt, kurz bevor das große Sterben von Sarajevo beginnt. Sie hat eine seltene Krankheit namens Vaskulitis, bei der das Immunsystem die Gefäße angreift. Dieser Tod, der schon auf Seite 50 von Damir Ovčinas fulminantem Debütroman „Zwei Jahre Nacht“ eintritt, ist hochsymbolisch.

Ein Sinnbild für das Schicksal Bosnien und Herzegowinas in den frühen neunziger Jahren und eine finstere Vorahnung dessen, was dem namenlosen Ich-Erzähler in den nächsten Monaten bevorsteht.

Es ist Mai 1992, die jugoslawische Volksarmee hat die Zufahrten zur Stadt blockiert, im Radio ist von Granaten in der Altstadt die Rede. Der 18-jährige Protagonist macht sich trotzdem auf den Weg in den Stadtteil Grbavica, wo er ein Mädchen treffen will. Unterwegs sieht er geplünderte Läden, eine zerbrochene Werbetafel, Männer mit Gewehren.

Er führt das Mädchen in eine Wohnung, die seiner Familie gehört. Sie ist nervös, verabschiedet sich bald. Auch er macht sich auf den Heimweg in den Stadtteil Dobrinja, wird jedoch von einem Polizisten angehalten. Auf die Frage, weshalb er nicht zurück könne, erhält er die Antwort: „Anderer Staat.“ Es ist der Tag, an dem serbische Einheiten Grbavica unter ihre Kontrolle gebracht haben. Ihr Ziel, ganz Sarajevo einzunehmen, führt zu einer fast vierjährigen Belagerung.

Damir Ovčina, der 1973 in Sarajevo zur Welt kam und die Okkupation miterlebte, unternimmt auf 750 Seiten den Versuch einer literarischen Nahaufnahme dieser Zeit. Sein mit ihm gleichaltriger muslimischer Erzähler wird in eine Arbeitsbrigade gezwungen.

Leichen bergen und begraben

Deren Aufgabe ist es, Gräben auszuheben, Haushaltsgeräte und Möbel aus verwaisten Wohnungen zu schleppen. Vor allem aber bergen und begraben die Männer Leichen. Der Erzähler berichtet darüber extrem nüchtern und präzise: „Auf dem Boden im geräumigen Wohnzimmer eine Frau um die sechzig, den Kopf an die Couch gelehnt. Neben dem Körper eine zertretene Brille mit silberner Fassung. Drum herum Kleidungsstücke aus dem Schrank. Alle Wände übersät von Schusslöchern.

Auf dem Boden Bücher. Durch das Fenster Kinderstimmen. Vom Tranzit her ein Panzer. Er dröhnt so laut, dass wir nichts mehr hören.“

Quasidokumentarische Anmutung

Szenen wie diese werden zum Alltag des jungen Mannes, der seine Gefühle nicht thematisiert. Es geht in seinen Schilderungen allein darum, was er sieht und tut. Dieser sachliche, mitunter ohne Verben auskommende Stil erzeugt eine quasidokumentarische Anmutung, wobei die Monotonie und die Wiederholungen zur hohen Eindringlichkeit des Textes beitragen. Kühle und Arglosigkeit des Blicks erinnern an Meisterwerke der Lagerliteratur wie Primo Levis „Ist das ein Mensch?“ oder Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“.

Hier nun ist eine ganze Stadt zum Lager geworden. Allerdings hat der Protagonist eine vergleichsweise komfortable Unterkunft: Sein Kommandant lässt ihn abends in die Wohnung seiner Familie zurückkehren. Sie liegt im dritten Stock eines Hauses, in dem irgendwann nur noch eine Lehrerin und deren Großmutter ausharren.

Humor inmitten des Schreckens

Die beiden leben im ersten Stock und sind wie alle Charaktere in „Zwei Jahre Nacht“ namenlos. Die Lehrerin hilft dem Erzähler, kocht für ihn, woraus sich bald eine zarte Liebesgeschichte entwickelt.

Anders als bei den detaillierten Tagesberichten bleibt in diesen Passagen vieles vage, was zur prekären Lage des Paares passt. In den Dialogen, alle ohne Anführungszeichen notiert, blitzt gelegentlich sogar Humor auf. Ein kurzes Aufatmen inmitten des Schreckens – auch für die Lesenden.

Zu Hause schreibt der junge Mann täglich in ein Heft, was er erlebt hat und was er gehört hat. Dazu treibt ihn auch „der Pianist“, ein Kollege aus der Brigade, an. Einmal sagt er: „Morgen wird man nicht einmal wissen, dass all das passiert ist, die serbische Journalistin Milijana Balotić wird sagen, das haben die alle doch nur geträumt, es ist wissenschaftlich bewiesen, dieses Volk träumt viel.“

Damit dürfte die Milošević-treue Journalistin Milijana Baletić gemeint sein. Weil es sonst fast keine vollständige Namensnennungen gibt, fällt diese auf. Ovčina, der 1996 mit einem Gedichtband debütierte und heute als Schulleiter arbeitet, will Stimmen wie der ihren etwas entgegengehalten. Er glaubt an die Macht des Wortes. Und so gehört das Schreiben über das Schreiben zu den Leitmotiven seines Buchs.

Chronist des Bosnienkrieges. Damir Ovčina.
Chronist des Bosnienkrieges. Damir Ovčina.

© Rowohlt Berlin

Auf die Frage, wie autobiografisch es sei, hat Ovčina einmal gesagt: „Literatur muss die Wahrheit ans Licht bringen. Ich habe mich streng nach dem gerichtet, was ich weiß.“ Poetische Wahrheit, literarische Kraft und eine immense Gravitas weist sein Buch zweifelsohne auf. Der kroatische Schriftsteller Miljenko Jergović hat es nicht zu Unrecht in die Nähe der Romane von Ivo Andrić oder Mehmed Meša Selimović gerückt.

In Bosnien und Herzegowina ist „Zwei Jahre Nacht“ bereits vor drei Jahren erschienen. Dort trug es den Titel „Kad sam bio hodža“ (Als ich Hodscha war), was sich auf ein Ritual bezieht, zu dem der Erzähler vom Brigadechef genötigt wird: Wenn die Truppe eine Leiche beerdigt hat, muss der junge Mann, der gerade erst am Grab seiner Mutter stand, einige arabische Formeln sprechen.

Verschleppte Söhne und Väter

Was auf den ersten Blick wie eine zynische Pseudo-Wahrung muslimischer Bräuche erscheint, ist von dem Kommandeur tatsächlich als Respektsbekundung gemeint. Denn dieser bemüht sich auch sonst um einen gewissen Anstand. So hört er sich geduldig Geschichten von verschleppten Söhnen und Vätern an und verspricht, nachzuforschen. Seine Brigade behandelt er einigermaßen fair. Als Abziehbild eines barbarischen Serben- Führers taugt er nicht.

Die Nachbarin ist ebenfalls Serbin, wobei sie sich – genau wie der Erzähler – nicht um irgendwelche Volkszugehörigkeiten schert. Dass es zwischen den beiden keinen nationalistisch grundierten Dissens gibt, ist ein Ausdruck des multikulturellen Geistes von Sarajevo, der in ihnen fortlebt. Und so hilft die Lehrerin ihrem jungen Geliebten nicht nur mit Essen und Kleidung, sondern zeigt ihm auch, wie er seine Notizen als russische Übungstexte tarnen kann. Langsam perfektioniert er die fremden kyrillischen Buchstaben und perfektioniert seinen Undercover-Bericht.

Die Gewehre und Panzer der serbischen Einheiten liefern dazu einen konstanten Soundtrack, der niemanden mehr zusammenzucken lässt. Die lakonisch protokollierten Einschläge erinnern an die Allgegenwart der Gewalt, an die Normalisierung des Grauens. Irgendwann wird davon auch der Erzähler ganz direkt erfasst, was ihm zwar die Flucht aus der Brigade ermöglicht, ihn aber für weitere lange Jahre zum Gefangenen in seinem Haus macht.

Albträume von Angriffen

Das letzte Viertel des Romans ist geprägt von seinem strammen Durchhalteprogramm. Es besteht aus Lesen, Schreiben, Sportmachen und Radiohören. Dazu kommen regelmäßige Kontrollgänge und Albträume von überraschenden Angriffen.

[Damir Ovčina:  Zwei Jahre Nacht. Roman. Aus dem Bosnischen von Mascha Dabić. Rowohlt Berlin, 2019. 752 Seiten, 26 Euro.]

Wie ein junger Mensch durch den Krieg daran gehindert wird, sein Leben zu leben, und stattdessen zu einer Art Routine-Roboter in Habachtstellung mutiert, ist zermürbend zu lesen. Dass Damir Ovčina ihn dabei nie als wehrloses Opfer erscheinen lässt, gehört zu den beeindruckenden Leistungen dieses Erzählers.

Genau wie sein Held ist der Autor beseelt von der Aufgabe, Zeugnis abzulegen, die Wahrheit seiner Stadt festzuhalten. Auf meisterhafte Weise tut er damit genau das, was Peter Handkes raunende und ungenaue Jugoslawien-Texte schmerzlich vermissen lassen. „Zwei Jahre Nacht“ zeigt, wie literarische Gerechtigkeit für Sarajevo aussehen könnte.

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