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Ain Anger als Boris Godunow.

©  Bernd Uhlig

"Boris Godunow" an der Deutschen Oper Berlin: Wolgaland ist abgebrannt

Es ist die Paraderolle für Bässe schlechthin. Und Ain Anger macht als Boris Godunow an der Deutschen Oper das Meiste daraus. Als Zar entgleitet ihm die Kontrolle über sein Reich - und über sich selbst.

Wem die Stunde schlägt: Der Gedanke drängt sich auf angesichts der vielen Glocken, mit denen Regisseur Richard Jones und Miriam Buether (Bühne) diesen „Boris Godunow“ garnieren. Glocken prangen zu Dutzenden an der Wand der trotz der Riesenbühne der Deutschen Oper eng wirkenden Kammer. Den Klang von Glocken hat Modest Mussorgsky auch in seine Partitur verwebt – dieses schroffe, verstörende, so eigenartig fremd schillernde Wunderwerk, das eine Episode aus Russlands Geschichte der frühen Neuzeit vertont. Kaum einer, sicher nicht außerhalb Russlands, würde heute noch den Zaren Boris Godunow (1552–1605) kennen, hätte Puschkin nicht ein Drama über ihn geschrieben, das Mussorgsky zur Vorlage seiner Oper heranzog.

Spät erst betritt Ain Anger als Godunow die Szene, im zweiten Bild („Meine Seele trauert ...“), und insgesamt wird er auch nur vier Auftritte haben. Aber jeder von ihnen brennt sich ein. Der Este, der diese Rolle zum ersten Mal singt, hat mit seinen langen geglätteten Haaren etwas Christusartiges, sein tiefgelagerter, eindringlicher Bass ist von ehrlich empfundenen Emotionen durchdrungen, poetisch, verzweifelt, aber auch machtbewusst. Stimme und Erscheinung sind von anrührender Zerbrechlichkeit und zugleich alttestamentarischer Wucht, allein ihretwegen lohnt sich der Besuch. Mussorgsky zeigt Godunow nicht nur als uneingeschränkten Herrscher, sondern auch als unrettbaren Zweifler, und Ain Anger greift das auf: Warum nur ist das Volk so undankbar? Hat er nicht alles versucht, den grassierenden Hunger im Land zu stillen? Und warum hören diese ständigen Gerüchte nicht auf, dass er den rechtmäßigen Thronfolger Zarewitsch Dimitrij habe ermorden lassen?

Der russische Macbeth

Was die historische Wahrheit ist, wird man wohl nie wissen. Boris Godunow gilt bis heute – und wird es wohl in alle Ewigkeit – als russischer Macbeth. Richard Jones spult dazu eine Szene ab, immer und immer wieder: Ein Junge spielt mit dem Kreisel, Symbol nicht nur der Kindheit, sondern auch des unentrinnbaren Schicksals. Seine Mörder haschen schon mit gestrecktem Messer nach ihm. Ist es Einbildung, Godunows Wahn, sein schlechtes Gewissen, das hier in Endlosschleife gezeigt wird? Die Bühne ist zweigeteilt, in der oberen Hälfte, unter einer byzantinischen Kuppel, wiederholt sich immer wieder das Mordgeschehen. Unten tummelt sich das Volk, neben der Titelfigur der zweite entscheidende Handlungsträger. Der von Raymond Hughes präparierte Chor singt nicht immer im Takt mit dem Orchester, manchmal schleppend und undeutlich, in anderen Momenten wieder glasklar und klangfarbenschön.

Mussorgskys Kunst besteht darin, aus diesem Kollektiv des Volkes wunderbare Individuen herauszuschälen. Ante Jerkunica singt den Mönch Pimen, der mit seinen Erzählungen der Wundertaten von Dimitrijs Leiche den Wahnsinnstod des Zaren beschleunigt; dem ausgemergelten Körper des Mönchs entschlüpfen verblüffende stimmliche Kraft und zornige Vitalität. Taghell schneidet der lyrische Sopran seines Novizen Grigorij Otrepjew (Robert Watson als Stipendiat des Förderkreises der Deutschen Oper Berlin) in die Szene. Später wird er sich als Dimitrij ausgeben und gegen den Zaren ziehen, all das ist historisch verbürgt. Und auch für Burkhard Ulrich – eine ganze Generation von Operngängern kann sich Wagners Mime oder Loge gar nicht mehr anders als in seiner Verkörperung vorstellen – findet sich im „Boris Godunow“ eine Paraderolle: die des zappelig-intriganten Fürsten Schuiskij. Alexandra Hutton als Godunows Tochter Xenia und Annika Schlicht als markige Schankwirtin halten tapfer die Fahne der Frauen hoch in dieser ansonsten reinen Männeroper. Sie alle werden aber überstrahlt von Ain Anger, der auch die im Grunde lächerliche und an Länge Verdis Gilda noch übertrumpfende Sterbeszene zu einer Charakterstudie macht.

Der Abend ist kurz, aber konzentriert

Kirill Karabits, frischgebackener Generalmusikdirektor in Weimar, dirigiert das Orchester der Deutschen Oper Berlin in seinem Hausdebüt zunächst überambitioniert und voluminös, was sich aber rasch einpendelt und in raffinierte Klangsinnlichkeit mündet. Auf den Pulten liegt eine Mischfassung der Urversion von „Boris Godunow“ von 1869 und der 1874er-Version. Der Abend ist kurz, viele später hinzugefügte Szenen fehlen. Eine Konzentriertheit, die der dramatischen Durchschlagskraft nicht schadet. Von einer letztgültigen Fassung kann man bei „Boris Godunow“ sowieso nicht sprechen, geradezu bruckneresk schrieb Mussorgsky an dem Werk weiter, nach seinem Tod hat es Nikolai Rimsky-Korsakow mehrmals überarbeitet, Partien gestrichen, wieder eingefügt – und der Oper so überhaupt erst den Weg auf die europäischen (und russischen!) Bühnen geebnet.

Das Beste, was man über Richard Jones Inszenierung – die 2016 schon in Covent Garden zu sehen war – sagen kann: Sie ist ordentlich gemacht. Historisch, mit viel Kostümpracht (Nicky Gillibrand), die aber trotz ihrer Massivität nicht aufdringlich, gar kitschig wird. Ein Abend, der ganz im Sinne Mussorgskys das zeitgeschichtliche Panorama mit dem Intimen, Menschlichen verschränkt, am berührendsten in der Zusammenkunft von Godunow mit seinem Sohn Fjodor (Philipp Ammer). Spuren ins Heute zu legen, das versagt sich Jones. Der Besucher kommt auch so kaum umhin, über Russlands Herrscher, ihre Fähigkeit zu Zweifel und Selbstkritik und den Zusammenhang von Macht und Wahnsinn nachzudenken. Irritierend nur, dass es dem Regisseur offenbar nicht gelang, wenigstens zum Schlussapplaus aus London herzujetten. Dafür schlurft Ain Anger, immer noch ganz in der Rolle, im langen Nachthemd und mit jetzt strähnig-strubbeligen Haaren auf die Bühne, noch in der Erschöpfung groß. Wie der Jubel, der ihn ereilt.

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