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Strandweg auf Usedom. Einst standen hier die Sperranlagen bis ins Meer

© ValerioVINCENZO_hanslucas.com

"Borderline" im Auswärtigen Amt: Grenzen wollen überschritten sein

Valerio Vincenzo fotografiert Europas verschwundene Schlagbäume. Eine Ausstellung im Lichthof des Auswärtigen Amtes zeigt sein Werk.

Ein Kiefernwald mit angedeutetem Pfad. Schräg im Bild eine weiß-rot-weiße Stange und etwas weiter hinten ein weißer Stein mit roter Kappe, das ist alles. Aber das Unscheinbare dieser Aufnahme von Valerio Vincenzo trügt. Bis vor 40 Jahren standen hier undurchdringliche Sperranlagen, die nicht nur Österreich und die Tschechoslowakei trennten. Der sogenannte Eiserne Vorhang teilte Europa. Auf einem anderem Foto führt ein Holzpfad durch die Dünen zum Strand. Links ein schwarz-rot-goldener Betonpfahl, rechts einer in Rot-Weiß: die deutsche Grenze auf Usedom. Auch hier stand bis in die 90er Jahre hinein ein Grenzzaun. Heute gehört Polen zur Europäischen Union, die Markierung zeigt nur noch staatliche Besitzverhältnisse an.

Grenze Tschechische Republik - Österreich.
Grenze Tschechische Republik - Österreich.

© ValerioVINCENZO_hanslucas.com

Im Lichthof des Auswärtigen Amtes sind mehr als 20 großformatige quadratische Fotos von Grenzsituationen in Europa zu sehen, ein guter Ort für diese Ausstellung. Sie zeigen „eine Utopie, die Realität geworden ist“, wie Valerio Vincenzo im Begleitbuch „Borderline. Frontiers of Peace. Les Frontières de la Paix“ schreibt. Als der Italiener nach einem Studienaufenthalt in Frankreich 1995 dort noch einige Monate arbeiten wollte, musste er noch jede Menge Formulare ausfüllen. Nur wenig später, nachdem er alle Papiere zusammengetragen hatte, schmolz „diese gewaltige administrative Maschinerie“ wie Schnee in der Sonne – Italien war Teil des Schengenraums geworden.

An der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich: Schloss Fleckenstein 2007, heute Frankreich .
An der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich: Schloss Fleckenstein 2007, heute Frankreich .

© ValerioVINCENZO_hanslucas.com

Nichts Neues, könnte Stefan Zweig sagen: „Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte. Es gab keine Erlaubnis, keine Verstattungen, und ich ergötze mich immer wieder neu an dem Staunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzähle, dass ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Pass zu besitzen oder überhaupt je gesehen zu haben“, schrieb er 1944 in „Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers“.

Die Grenze zwischen Polen und der Slowakei heute.
Die Grenze zwischen Polen und der Slowakei heute.

© ValerioVINCENZO_hanslucas.com

Wir haben das vergessen. Mit dem Ersten Weltkrieg war es vorbei mit der Reisefreiheit, Misstrauen und Abgrenzung hielten Einzug in Europa und spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Teilung des Kontinents wurden Grenzen zum Teil unüberwindlich. Vor 1914, so Zweig weiter, waren Grenzen „nichts als symbolische Linien, die man ebenso sorglos überschritt wie den Meridian in Greenwich“. Mit der Etablierung des Schengen-Raumes ist das in Europa zunächst auch weitgehend gelungen. 26 Länder mit 420 Millionen Einwohnern auf vier Millionen Quadratmetern sind so miteinander verbunden.

Zehn Jahre lang ist Vincenzo quer durch Europa gereist, um die friedlich gewordenen Grenzen zu fotografieren oder das, was davon übrig geblieben ist. Fast 20 000 Kilometer legte er zurück, um geeignete Punkte zu finden. Zwischen der Schweiz und Frankreich stecken beispielsweise auf einem schneebedeckten Gipfel Stäbe, um eine Linie zu markieren, es könnte genauso gut eine Wegmarkierung im Schneechaos sein. Zwischen Lettland und Estland ist es ein vorzeitlich anmutender flacher Steinwall, auf dem eine Familie durch die Felder geht. Witzig das Foto mit den zwei Radfahrern, die sich am Dreiländerpunkt zwischen den Niederlanden, Belgien und Deutschland grenzüberschreitend küssen und ein Selfie machen.

Selfie am Dreiländerpunkt Deutschland-Belgien-Niederlande.
Selfie am Dreiländerpunkt Deutschland-Belgien-Niederlande.

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Ja, es ist eine Realität gewordene Utopie, die Vincenzo in seinen Fotos festgehalten hat. Sie regen dazu an, das nicht als Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Sie will verteidigt werden, auch bei der Europawahl. Das Beispiel Stefan Zweig zeigt, wie schnell sich die Situation ändern kann.
Auswärtiges Amt, Lichthof, bis 26. Mai. Mo-Fr von 10-19 Uhr. Begleitbuch 40 €.

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