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Noch nicht aufgeflogen: Historikerin Marie Sophie Hingst bei der Verleihung des „Goldenen Bloggers 2017“.

© pa/obs Die Goldenen Blogger/H. Andree

Bloggerin Marie Sophie Hingst gestorben: „Sie glaubte ihre eigenen Lügen“

Die Bloggerin Marie Sophie Hingst erfand Holocaust-Opfer in ihrer Familie und flog damit auf. Jetzt ist die 31-Jährige gestorben.

Sie gab sich als Nachfahrin von Holocaust-Opfern aus – obwohl sie keine jüdischen Verwandten hatte. Sie schickte Shoah-Akten an die israelische Gedenkstätte Yad Vashem – doch die hatte sie gefälscht. Hunderttausende lasen ihre Texte – und hielten sie für real. Für ihren besonderen literarischen Stil wurde sie zur Bloggerin des Jahres gewählt, bis der Preis ihr wieder aberkannt wurde. Marie Sophie Hingst schuf sich eine eigene Wahrheit. Sie flog auf. Nun ist sie mit nur 31 Jahren gestorben. Über die genaue Ursache ihres Todes gibt es von offizieller Seite bisher keine Angaben. Darüber berichtet hatte die „Irish Times“ in einem ausführlichen Porträt.

Der Autor der „Irish Times“ zeichnet darin das Bild einer Frau, die schwere psychische Probleme hatte. Bei einem Treffen am Wannsee habe Hingst ihm gegenüber trotz allem an ihrer Version der Geschichte festgehalten, sie habe sogar einen Judenstern aus Stoff präsentiert, der angeblich von ihrer Großmutter stammt, die in Auschwitz gewesen sein soll. Als der Reporter bei Hingsts Mutter angerufen habe, widersprach diese ihrer Tochter. Es gebe keine jüdische Vergangenheit in der Familie. Von den 22 Biografien, die Hingst an Yad Vashem geschickt hatte, existierten 19 überhaupt nicht.

Herausgefunden hatte das im Mai ein Journalist des „Spiegel“. Der Reporter hatte Hingst für seine Recherche in Dublin getroffen, wo sie lebte, und sie mit den Vorwürfen konfrontiert. An der Recherche war auch die Berliner Historikerin Gabriele Bergner beteiligt, die auf Unstimmigkeiten in Hingsts Blog aufmerksam geworden war. Die Bloggerin stritt die Vorwürfe zunächst ab, nahm sich später jedoch einen Anwalt und berief sich auf die Freiheit der Literatur. Sie habe „ein erhebliches Maß an künstlerischer Freiheit für sich in Anspruch genommen“. Zahlreiche Medien, darunter auch der Tagesspiegel, hatten im Anschluss über den Fall berichtet und Hingst für ihr Handeln kritisiert. „Sie scheint den Nimbus der Opferrolle gesucht zu haben“, hieß es in dieser Zeitung. Bei Twitter wurde der Hashtag #readonmyfake populär. Das Erfinden falscher jüdischer Identitäten sei eine Beleidigung und eine Respektlosigkeit gegenüber denen, die die Judenverfolgung wirklich erleben mussten, lautete der Tenor.

Hingst hatte "mehrere Realitäten

Hingst schien die Aufmerksamkeit fast zwanghaft zu suchen. So hatte sie in den vergangenen Jahren Artikel veröffentlicht, wonach sie angeblich eine indische Klinik aufgebaut und in Deutschland als Sexualtherapeutin für Flüchtlinge gearbeitet hatte. Das stellte sich ebenfalls als erfunden heraus. Hingsts Mutter wird in der „Irish Times“ zitiert, ihre Tochter habe „mehrere Realitäten. Ich habe nur zu einer Zugang“. Auch der „Spiegel“-Journalist hatte nach einer Begegnung mit der Bloggerin im Mai befunden: „Marie Sophie Hingst hat sich in eine Parallelwelt hineinfantasiert“, an die sie zuweilen sogar selbst geglaubt habe.

Während des Treffens mit dem Reporter der „Irish Times“ hatte Hingst gesagt, sie fühle sich, als sei sie vom „Spiegel“ „lebendig gehäutet“ worden. Auf Nachfrage des Tagesspiegels teilte der Verlag mit, man bedauere den Tod der Bloggerin, beim Gespräch in Dublin habe sie jedoch „einen konzentrierten, souveränen und keineswegs psychisch angegriffenen Eindruck“ gemacht. Hingst habe dem Magazin zwar mit rechtlichen Schritten gedroht, die aber offenbar nicht eingeleitet. Weiter hieß es in der Stellungnahme, man werde sich an „einer öffentlichen Diskussion über die Ursachen und Hintergründe des Tods“ nicht beteiligen.

Wie weit geht die journalistische Pflicht zur Aufklärung?

Hingsts Arbeitgeber in ihrer Wahlheimat Irland, die Computerfirma Intel, hatte sie laut dem Bericht der „Irish Times“ nach Bekanntwerden der Vorwürfe nicht entlassen, sondern ihr angeboten, sich hausintern psychologische Hilfe zu holen. Diese habe sie wohl auch angenommen. Die „Irish Times“ berichtet, die 31-Jährige habe sich vermutlich das Leben genommen. Sie wurde am 17. Juli tot in ihrem Bett gefunden, ein Autopsiebericht steht noch aus, es habe jedoch keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung gegeben. Sophies Mutter habe laut dem Bericht sofort Selbstmord vermutet.

Der Fall warf schnell die Frage auf, wie weit die journalistische Pflicht zur Aufklärung geht. Erste Kommentatoren im Internet schrieben, für psychisch Kranke müsse es besondere Sorgfalt geben. Eine Frage, die schon einmal aufgekommen war, vor nicht allzu langer Zeit. Ende 2018 war öffentlich geworden, dass „Spiegel“-Reporter Claas Relotius systematisch Geschichten gefälscht hatte. Ein notorischer Schwindler, der die Glaubwürdigkeit nicht bloß des Magazins, sondern des Journalismus insgesamt beschädigte. Auch damals wiesen viele Kommentatoren auf die Fürsorgepflicht hin, die gegenüber dem Beschuldigten gelten müsse. Kann jemand, der so labil ist, dass er sein gesamtes Umfeld täuscht, derart massive Kritik aushalten?

Doch was wäre die Alternative gewesen? Nicht aufklären, aus Rücksicht auf die junge Autorin? Hingsts Mutter warf dem „Spiegel“-Reporter vor, er habe „hinter den Fakten die Person nicht gesehen“.

Wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar: 0800/111 0 111.

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