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Elle Fanning in der Rolle der Autorin Mary Shelley.

© Prokino

Biopic „Mary Shelley“ im Kino: Das Monster sind wir

Die Frau, die Science Fiction erfand: das feministische Biopic „Mary Shelley“ von der saudi-arabischen Regisseurin Haifaa Al-Mansour.

Die wegen ihrer Irrationalität, ihres Eskapismus und ihrer Naturverklärung geschmähte Romantik war halt doch zu was gut. Sie hat Gespenstergeschichten, Gothic Novels, kurz das Gruselpotenzial von Friedhöfen, Ruinen, Mooren literaturfähig gemacht. Und diese Sujets auch mit dem zeitgleich in Mode gekommenen Interesse an Wissenschaft verknüpft.

Wenn die gebildete Londoner Mittelschicht in Haifaa Al-Mansours Biopic „Mary Shelley“ im Theater sitzt, um einer Galvanismus-Vorführung beizuwohnen, in der die Beine eines toten Frosches beim Anschließen von Elektroden wieder zu zucken beginnen und Frauen wie Männer von Angstlust erfüllt aufkreischen, dann verschwimmt die Grenze zum Entertainment, zum Hokuspokus. Und auch der dümmste August merkt, dass das Drehbuch (Emma Jensen) hier den Keim für den späteren Geniestreich einer blutjungen Schriftstellerin legt.

Rebellion gegen die gesellschaftlichen Normen

Dass die Regisseurin keine Angst vor Klischees hat, beweist schon die Eingangssequenz, in der die 16-jährige Heldin nach einem inneren Monolog, Sphärenklängen und Himmelsbildern vor dem moosbewachsenen Grabstein ihrer Mutter niedersinkt. Die frühe Feministin Mary Wollstonecraft verstarb 1797 wenige Tage nach Marys Geburt. Das beschert dem Mädchen einen der Schuldkomplexe, die die idealtypisch besetzte Elle Fanning in der Rolle zu beackern hat. In Ermangelung mütterlicher Zuwendung bindet sie sich an ihre Schwester und den zu ihrem Leidwesen neu verheirateten Vater. Der Schriftsteller William Godwin kann es an revolutionären Ansichten locker mit Wollstonecraft aufnehmen, reagiert aber verschnupft, als die Tochter mit dem verheirateten Lyriker Percy Shelley durchgeht.

Diese Liaison führt schließlich auch zu dem berühmten verregneten Sommer des Jahres 1816 am Genfer See in der Villa von Lord Byron, den Tom Sturridge als dekadenten, bisexuellen Snob spielt. Aus einem Wettbewerb der dauerberauschten Geistesgrößen gehen gleich zwei neue literarische Genres hervor: Mary Shelley erfindet mit „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ die Science Fiction. Und der – im Film als tragische Figur dargestellte und längst vergessene – John Polidori begründet mit seiner Kurzgeschichte „Der Vampyr“ lange vor Bram Stoker den Vampirmythos.

Regisseurin Haifaa Al-Mansour hat 2013 als erste Filmemacherin Saudi-Arabiens mit „Das Mädchen Wajda“ international Aufmerksamkeit erregt. Zu ihrem Kostümfilm-Debüt ist sie auf Initiative der Produzenten gekommen. Doch tatsächlich haben ihre frühere Protagonistin, ein arabisches Mädchen von heute, das um das Recht kämpft, ein Fahrrad besitzen zu dürfen, und die britische Schriftstellerin, die ihr Erstlingswerk vor 200 Jahren zuerst nicht unter ihrem (Frauen-)Namen veröffentlichen darf, einiges gemeinsam. Beide rebellieren gegen herrschende gesellschaftliche Normen. Beide setzen sich durch. Mädchen ist das Fahrradfahren in Saudi-Arabien inzwischen erlaubt. Mary Shelley wird noch zu ihren Lebzeiten eine anerkannte Schriftstellerin, auch wenn keine ihrer anderen Schriften so einen Erfolg hat wie „Frankenstein“.

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Die konventionell erzählte, in gepflegtem Arthouse-Look gefilmte Künstlerbiografie zieht einleuchtende Parallelen zwischen dem Romaninhalt und dem Leben der Autorin. Die Verlorenheit der von der Stiefmutter abgelehnten Halbwaisen spiegelt sich in der Einsamkeit der von Doktor Frankenstein geschaffenen Kreatur. Und die gesellschaftliche Ächtung, die Mary als schwangere Geliebte eines – der freien Liebe anhängenden und häufig mittellosen – verheirateten Künstlers erfährt, schärft die in den Roman einfließende Kritik gesellschaftlicher Ausgrenzung.

Romantisierend, aber nicht plump idealisierend

All das stellt „Mary Shelley“ schlüssig, gelegentlich zu schlüssig dar. Eine dynamische, auch schwebende Kamera und die treibende Klaviermusik unterstreichen die Dringlichkeit aller Empfindungen. Ja, „Mary Shelley“ zeichnet ein romantisierendes, aber nicht plump idealisierendes Bild eines Liebes- und Autorenpaars, das mit einem bis heute verdammt anspruchsvollen Lebensmodell experimentiert.

Das damalige Freigeistertum birgt für Mary öfter schmerzhafte Konsequenzen als für den Frauenschwarm Percy Shelley (Douglas Booth). Doch dies hat die Nachwelt längst zu ihren Gunsten korrigiert. Ihr „Frankenstein“ ist ein Mythos geworden. Seine schwülstigen Gedichte zitiert heute niemand mehr. Was bleibt, ist das Staunen über Mary Shelleys Mut und der Schmelz der Jugend, der auf Elle Fannings Gesichtszügen liegt.

Filmkunst 66, Intimes, Kulturbrauerei, Spreehöfe, Odeon, Rollberg, Sputnik, Toni (Deutsche Fassung und OmU)

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